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Wert der Kultur «Nichts gegen Netflix, aber ...»

Für den deutschen Soziologen Dirk Baecker sind Theaterbesuche, Konzerte und Kinos unverzichtbar. Die gegenwärtige Coronakrise macht für ihn erst recht deutlich, wie wichtig Kultur für uns als Gesellschaft ist.

Dirk Baecker

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Der Soziologe Dirk Baecker (geb. 1955) promovierte und habilitierte beim deutschen Gesellschaftskritiker Niklas Luhmann. Baecker ist Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke und Autor diverser Bücher, u.a. «Studien zur nächsten Gesellschaft» (2007), «Neurosoziologie. Ein Versuch» (2014) oder «4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt» (2018).

SRF: Sie haben das Buch «Wozu Kultur?» geschrieben. Muss man Kultur rechtfertigen?

Dirk Baecker: Mit dem Buch habe ich das versucht. Man sagt, dass Kultur das Sahnehäubchen auf der Gesellschaft ist. Die eigentlich wichtigen Dinge würden sich im Beruf, in der Familie und der Freizeit abspielen. Kultur ist dann die Entspannung, die man sich am Abend gönnt. Das geht meiner Meinung nach schwer an der Sache vorbei.

Um mit Sigmund Freud zu sprechen: Unser Leben in dieser Gesellschaft ist kulturell anspruchsvoll. Wir müssen uns im Beruf und im Alltag so sehr laufend kontrollieren, dass wir abends eine Form der Auseinandersetzung mit dieser Spannung brauchen.

Plötzlich entdecken wir, dass in dieser Gesellschaft das Entscheidende fehlt – die Bewegungsfreiheit der Menschen.

Die Beschäftigung mit Kunst ist so etwas wie die Abfuhr der täglichen Spannung zugunsten des Begreifens, und nicht nur zugunsten der Unterhaltung. Deswegen sind der Theaterbesuch, der Konzertbesuch, auch der Kinobesuch eine absolut unverzichtbare Angelegenheit.

Ein Kollege von Ihnen, der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz, hat gesagt: Kultur ist vielleicht nicht systemrelevant, aber sie ist humanrelevant. Was sagen Sie zu dieser Aussage?

Ein schönes Wort. Aber das Humanrelevante ist ja das Systemrelevante. In der gegenwärtigen Corona-Gesellschaft wurden viele wirtschaftliche, politische, aber eben auch kulturelle Leistungen zurückgefahren.

Plötzlich entdecken wir, dass in dieser Gesellschaft das Entscheidende fehlt – die Bewegungsfreiheit der Menschen. Wir akzeptieren das, weil wir wissen, die Epidemie lässt uns keine Wahl. Aber man stelle sich auf Dauer eine solche Gesellschaft vor und man entdeckt, dass der Mensch das Systemrelevante schlechthin ist.

Wenn wir zum Sahnehäubchen-Charakter der Kultur zurückkommen, frage ich Sie als Kulturtheoretiker: Käme es nun zu einem Sterben von Kulturbetrieben, was verlieren wir?

Wir verlieren entscheidende Momente der Reflexion auf unsere eigenen Zustände. Wenn man ins Theater geht – ich selber mache das so häufig wie möglich –, erlebt man menschliche Situationen auf eine zugespitzte Art und Weise. Das Theater verzögert und beschleunigt und hält uns so einen Spiegel vor.

Die Kultur ist nicht nur das Sahnehäubchen auf unserem Leben, sondern eine anspruchsvolle Form der Selbstbeobachtung.

Früher galt das vor allem für das Sprechtheater, heute auch für die Performance. Wir erleben die Unwahrscheinlichkeit unseres menschlichen Lebens, unsere fragile Körperlichkeit, unsere wankelmütigen Stimmungen, unsere vergeblichen Versuche, das Heft in der Hand zu behalten.

Gilt das nur fürs Theater oder auch für die Musik?

Das Konzert ist anders als das Theater. Musik spielt sich sowohl im Kopf als auch im Körper ab. Ich komme meiner eigenen Unruhe auf die Spur, erlebe meine Nervosität, meine Sehnsucht nach Harmonie, aber auch nach Disharmonie. Disharmonien kommen uns heute ja natürlicher vor als Harmonien.

Hören ist nicht nur ein passiver, sondern auch ein aktiver Zustand. Das erlebe ich zum Beispiel bei einem Jazzkonzert oder im klassischen Konzert – seltener im Popkonzert, das lenkt optisch zu sehr ab. Wenn ich will, komme ich dabei meinen Hoffnungen und Befürchtungen noch einmal ganz anders auf die Spur.

Kultur kann man zurückfahren, man kann sie unterdrücken, aber man kann sie nicht beenden.

Die Kultur ist nicht nur das Sahnehäubchen auf unserem Leben, sondern eine anspruchsvolle Form der Selbstbeobachtung. Ich bin auf Künstler angewiesen, die mir sinnliche und intellektuelle Wege zu mir selbst erschliessen.

Wenn die klassischen Kulturinstitutionen schliessen würden und wir alle stattdessen Netflix-Serien schauen, wäre das gemäss Ihnen ja immer noch eine Kultur. Verlieren wir dennoch etwas? Oder anders: Ist es wichtig, dass bestimmte Kulturen überleben?

Ich bin davon überzeugt, dass sich Kunst und Kultur fast jederzeit neu starten lassen. Kultur entsteht aus der Sehnsucht nach Balance, Kunst aus der Kritik an der allzu billigen Balance. Die beiden stehen in einer unaufhebbaren Spannung zueinander. Beide erfüllen eine Funktion im menschlichen Leben.

Man kann sie zurückfahren, man kann sie unterdrücken, aber man kann sie nicht beenden. Nichts gegen Netflix, aber ich würde umgekehrt fragen: Was verdanken wir unserer aktuellen Theater-, Konzert- und Kinokultur? Und ich finde es bemerkenswert, dass die Antwort auf diese Frage nicht auf der Hand liegt.

Ich möchte mir ein Leben in einer Gesellschaft, in der wir uns dank der Literatur, des Theaters, der Musik und des Films nicht immer wieder selbst zum Rätsel werden dürfen, nicht vorstellen.

Das Gespräch führte Barbara Bleisch.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 31.05.2020, 11 Uhr. ; 

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