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«Weisse-Leute-Mahlzeit»: Social-Media-Trend in China
Aus Kultur-Clips vom 19.06.2023. Bild: IMAGO / Blue Jean Images
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#WhitePeopleFood Warum Chinesen über unser Essen lachen

Rohes Gemüse, keine Gewürze: In China macht der Hashtag «Weisse-Menschen-Mahlzeit» die Runde. Manchen schmeckt's auch.

Lunch im Büro sieht hierzulande oft so aus: ein Salat, ein abgepacktes Sandwich oder Rohkost mit Dip, vielleicht gesunde Snacks, die es in der Kühltheke des Grossverteilers zu kaufen gibt. In China hat diese vermeintlich westliche Alltagsbegebenheit nun ein Label erhalten: «White People Food» heisst dort ein neuer Social-Media-Trend.

Die chinesische Küche ist bekannt für komplexe Geschmäcker, aufwendige Zubereitungsarten und gekochte Gerichte, sagt Claudia Stahel, TV-Korrespondentin von SRF in China. Dem gegenüber stehen neuerdings ungewürzte, rohe und einfache Zwischenmahlzeiten vom Typ Apfelschnitze, Reiswaffeln mit Wurst und Gurkenräder?

Es begann in der Schweiz

Der Ursprung des Internet-Trends ist laut einem Artikel des «Guardian» ein Video aus der Schweiz. Eine Auslandsstudentin filmte im Zug eine Frau dabei, wie sie Salatblätter mit Schinkenscheiben und Senf isst. Den Clip lud sie auf der chinesischen Lifestyle-Plattform «Xiaohongshu» hoch.

Der Sinn der Mahlzeit der Weissen ist es, zu erfahren, wie es sich anfühlt, tot zu sein.
Autor: Kommentar auf der Plattform «Xiaohongshu»

Dazu schrieb sie: «Die Einheimischen schocken mich immer wieder aufs Neue mit ihren Tricks😆.» Daraufhin teilten unzählige Nutzer und Nutzerinnen ebenfalls ihre Erfahrungen mit «báirén fàn» oder «Weisse-Menschen-Mahlzeit».

Aus Verwunderung wird Spott

In den Kommentaren zum Video heisst es: «Als ich zum ersten Mal nach Australien kam, sah ich eine Frau, die im Supermarkt rohe, in Scheiben geschnittene Pilze kaufte und sich hinsetzte, um sie zu essen.» Und weiter: «Was ich sah, war eine Tüte bunter Paprika, die sofort gegessen wurde.»

Auf Verwunderung folgten spöttische Kommentare und Herablassungen: «Der Sinn der Mahlzeit der Weissen ist es, zu erfahren, wie es sich anfühlt, tot zu sein, aber ich habe zwei Bissen genommen, und es war so schlecht, dass mir klar wurde, wie lebendig ich bin», schreibt ein Nutzer beim chinesischen Kurznachrichtendienst Weibo unter ein Foto, das Cracker, Käse und Schinken zeigt.

Genuss? Fehlanzeige

Auf TikTok erklärt Nutzerin Lee Twodog die Prinzipien des «White People Food»: «Weisse Menschen geben ihrem Essen keine Gefühle», schreibt sie und meint damit das Essen ohne Gewürze. Genuss stehe sowieso nicht im Fokus. Es geht nur um die Zufuhr von Nährstoffen und Energie. Zudem werde die Zubereitung umgangen: «Iss es roh und iss es am Stück!»

Ausserdem helfe dieses fade Essen tagsüber, Arbeit von Freizeit zu unterscheiden. Der Effekt: «Wenn man nach Hause kommt, isst man sein normales Essen und spürt das Leben wieder», sagt die Chinesin.

Hier scheint ein Ernährungskult durch, den Menschen in Europa oder in den USA hochhalten: Erst durch die Regulierung von Essen entsteht Leistungsfähigkeit, erst durch Verzicht wiederum Genuss.

Gurkensandwich mit rohem Toastbrot.
Legende: Genuss durch Verzicht? Chinesen lachen über das weisse Essen ohne Gefühle. IMAGO / imagebroker

Die Reaktionen darauf sind gemischt. Unter einem Foto von Karotten und Spinatblättern schreibt ein Nutzer auf Xiaohongshu: «Produzieren die schon ihre eigene Energie, ohne zu essen?»

Kaum Zeit zu essen

Die Entdeckung disziplinierter Nahrungsaufnahme stösst auf ein spezielles Arbeitsethos in China: Viele arbeiten nach dem 996-Schema: von neun bis neun an sechs Wochentagen. Unter dem Hashtag «996» thematisieren Chinesinnen und Chinesen die langen Arbeitszeiten in der Techbranche, erklärt Korrespondentin Claudia Stahel. Die Folge: Viele sind oftmals zu beschäftigt, um sich eine Mahlzeit zuzubereiten.

Auch deshalb scheint «White People Food» in China zu boomen. Während in der Schweiz Kinder damit aufwachsen, zum Znüni Gemüse und Obst in der Frischhaltedose vorzufinden, entdecken chinesische Studierende und Büroangestellte diese Zubereitung für sich. Sie stellen Lunchpakte mit ungewürzten und einfach zubereiteten Gerichten zusammen und posten davon Bilder auf Social Media.

Kritik an der Arbeitskultur

Claudia Stahel sieht den Hashtag eher in einer spezifischen Gruppe unter jungen Menschen verortet, der in keiner Weise mit Internet-Trends wie «Runxue» (die Wissenschaft, wie man ins Ausland abhaut), «Lying Flat» (flach liegen)  oder «Let it rot» (verrotten lassen) vergleichbar sei.

Die Einstellung «weisser Menschen» zum Kochen könnte aber auch eine Weiterführung letztgenannter Trends sein. Hierzulande bekannt als «Quiet Quitting» geht es bei «Lying flat» darum, sich wenig Mühe zu geben und eine entspannte Haltung einzunehmen.

Chinesischer Mann am Kochen zuhause mit Gemüse.
Legende: Bereits vor «White People Food» trendeten in China Rezepte, die nur wenig Zutaten und Zeit benötigen. IMAGO / Pond5

Hinter «Let it rot» verbirgt sich die Bewegung, sich nicht mehr zu kümmern, weil die Lage sowieso ausweglos ist. Beide Trends seien als Reaktionen auf die strenge Arbeitskultur hinter «996» zu verstehen, erklärt Stahel.

Bevor «White People Food» aufkam, zirkulierten laut der chinesischen Medienplattform «Radii» in den sozialen Medien bereits Videos mit Rezepten, die nur wenig Zutaten und Zeit benötigen. Vor allen junge Menschen, denen es offenbar nichts ausmacht, jeden Tag ähnlich zu essen, teilten diese Videos.

Nicht ohne meine Gewürze

Doch so ganz mag man vom eigenen, kulturell geprägten, Geschmack nicht wegkommen: Gewürze spielen in der chinesischen Küche eine wichtige Rolle. So versuchen einige Nutzerinnen und Nutzer, einen Mittelweg zu finden und passen das Essen ihrem Geschmack an.

Auf «Xiaohongshu» stellte eine Nutzerin einen kalten Gurkensalat nach Sichuan-Art mit vielen Aromen vor, dazu den Hinweis: «Kaufen Sie Gurken mit grünem Fleisch für einen knackigeren und süsseren Geschmack.» Andere präsentierten ein gebratenes Tomaten-Ei-Sandwich auf Vollkornbrot.

Fusion-Küche trendet schon heute in westlichen Metropolen. Und wer weiss: Vielleicht gibt es «White People Food» nach chinesischer Art bald schon in den Szenebezirken von New York, Berlin oder Zürich.

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