Selbstverwirklichung – wie geht das eigentlich? Und gibt es das überhaupt: ein Selbst? Der ETH-Philosophieprofessor Michael Hampe hat ein literarisches Buch dazu geschrieben und rät: Vergesst das wahre Selbst.
SRF: Viele von uns kennen das Gefühl, das eigene, echte Leben zu verpassen. Woran liegt das?
Michael Hampe: Häufig hat es damit zu tun, dass wir in Rollen agieren und bestimmte Handlungen immer wieder durchführen. Irgendwann drängt sich die Frage auf: Passe ich eigentlich zu dieser Rolle, die ich ausfülle?
Wann treten diese Krisen besonders häufig auf?
Oft erleben wir sie in der Lebensmitte, in der so genannten Midlife-Crisis. Ähnliche Krisen gibt es aber auch in der Pubertät: Es werden Rollenerwartungen an uns herangetragen, obwohl wir uns selbst noch nicht gut genug kennen.
Am Lebensende fragen sich dann viele: War’s das? Habe ich mein eigenes Leben gelebt?
Die Sehnsucht nach dem wirklichen Leben zieht viele Menschen in die Natur. Warum?
In der Wildnis fallen die sozialen Erwartungen weg. Ich muss keine Rollen mehr erfüllen. Seit der Spätromantik ist das geradezu eine Technik geworden: Man geht in die Wildnis, um sich von den sozialen Ansprüchen zu befreien.
Man schaut, was sich dabei öffnet und hofft, dass dabei die authentischen Wünsche, das wahre Selbst zum Vorschein kommt.
Funktioniert das?
Nach der Rückkehr nimmt man schärfer wahr, welche Konventionen uns davor geprägt haben. Zudem entdeckt man die eigenen Möglichkeiten und Grenzen, gerade dann, wenn man sich in Lebensgefahr begibt.
Das führt aber nicht dazu, dass man sein wahres Selbst, den Wesenskern entdeckt.
Können wir mit Kunst, mit Musik oder Sport unser wahres Ich erfahren und ausdrücken?
Sich durch Musikmachen oder Sport ausdrücken zu können, bedeutet nicht, dass der eigene Wesenskern ans Licht kommt. Es kann auch eine situative Stimmung sein, eine momentane Traurigkeit in der Musik etwa.
Man setzt die eigene Lebensgeschichte im Musikmachen fort, idealerweise, ohne dabei äusseren Ansprüchen genügen zu wollen.
Der Jazzmusiker Miles Davis meinte einmal, es sei schwierig, so zu klingen wie man selbst. Geht das überhaupt?
Dazu muss zunächst die Trennung zwischen dem Musiker und seinem Instrument wegfallen. Man muss «eins werden» mit dem Instrument. Den Ton geschehen lassen. Als Klavierspieler darf ich nicht darüber nachdenken müssen, wie ich meine Finger zu bewegen habe.
Ähnliches gilt für den Sport. Man muss sich selbst in gewisser Weise vergessen, um Höchstleistungen zu erbringen und sich selbst ausdrücken zu können.
Selbstfindung durch Selbstvergessenheit. Viele Menschen, auch Sie selbst, suchen das in der Meditation. Wie geht das?
Der Körper ist in der Meditation quasi das Instrument. Die meditative Konzentration auf die eigenen Körperzustände führt zu einem Bewusstsein, das nicht mehr bewertet.
In der Meditation lösen wir uns von Bewertungen.
Normalerweise ist es nämlich unser Körper, der die Dinge in der Welt bewertet, durch Lust und Schmerz. Indem wir in der Meditation den Körper zum Gegenstand machen, lösen wir uns von seinen Bewertungen.
Und wer sind wir dann, wenn wir meditieren?
Das Bewusstsein, das sich von den bewertenden Körperzuständen ablöst, ist ein allgemeines Bewusstsein, das allen Lebewesen gemeinsam ist.
Buddhisten sagen: Unser individuelles Selbst ist nur die Folge davon, dass dieses allgemeine Bewusstsein durch die eigenen Körperzustände beunruhigt worden ist.
Das Ich gleicht einem Wellenmuster auf einer Wasseroberfläche, das durch Wind entstanden ist. Bei Windstille verschwindet dieses Wellenmuster und wird als Teil der ruhigen Wasseroberfläche erkennbar.
Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger.