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Gesellschaft & Religion Wie Juden die Schweizer Uhrenindustrie zum Laufen brachten

Viel wissen wir über die technische Entwicklung der Schweizer Uhrenindustrie – wenig aber über die Menschen, die die Uhren herstellten und verkauften. Vor allem nicht über jene jüdischen Pioniere, die einst als Hausierer und Viehhändler nach La Chaux-de-Fonds kamen.

Mitte des 19. Jahrhunderts waren im elsässischen Dorf Hégenheim, unmittelbar an der Schweizer Grenze, rund ein Drittel der Bewohner Juden. Sie durften sich in der Schweiz nicht niederlassen, aber als Hausierer und Viehhändler waren sie toleriert. Diese mobilen Zwischenhändler haben sich allmählich einen neuen Markt erschlossen. Sie besorgten den kleineren Uhrenmanufakturen in und um La Chaux-de-Fonds das Rohmaterial, das sie zur Uhrenherstellung brauchten – Metalle und Edelsteine etwa. Sie übernahmen dann auch die fertigen Uhren und verkauften sie in Basel oder weiter bis nach London oder in die USA.

Exodus aus dem Jura

Nach und nach liessen sich Hégenheimer Juden in La Chaux-de-Fonds nieder. Sie spielten eine wichtige Rolle, als die Uhren nicht mehr eine um die andere hergestellt wurden, sondern alle Teile maschinell gefertigt wurden. An der Weltausstellung von Philadelphia 1876 zeigten amerikanische Fabrikanten nämlich, dass sie mit Maschinen Uhren fabrizieren konnten. Im Schweizer Jura setzten einige Unternehmer voll auf dieses amerikanische Modell.

Das grösste derartige Projekt entstand im Berner Jura, in Tavannes. Das Dorf litt unter dem Zusammenbruch der Holzpreise, viele Bewohner des Dorfes mussten auswandern und suchten Arbeit in den USA. Die Gemeinde versuchte verzweifelt, Arbeitsplätze im Dorf zu behalten und baute eine kleine Fabrik auf Vorrat, die man einem Uhrenunternehmen anbot, das willig war, im Bauerndorf zu produzieren. Henri-Frédéric Sandoz, ein Uhrmacher aus Le Locle, erhielt den Zuschlag.

Das China von La Chaux-de-Fonds

Sandoz stellte also nun nicht nur alle Teile für Uhren selber her, er fabrizierte auch gleich die Maschinen, die dazu notwendig waren und die er den Amerikanern abguckte. Zugleich machte er aus Bauern und Knechten Fabrikarbeiter.

Schwarz-weiss Bild einer grossen Synagoge.
Legende: Als das Geschäft florierte, liessen jüdische Immigranten eine der grössten und schönsten Synagogen der Schweiz bauen. Bibliothèque de la Ville de La Chaux-de-Fonds / Ed. Schnegg

Das Unternehmen, die Tavannes Watch, wuchs sehr rasch. Auf der Suche nach Kapital stiess er auf Théodore und Joseph Schwob aus La Chaux-de-Fonds, die dort je eine Handelsfirma führten. Die beiden Juden, sie stammten beide aus dem Elsass, investierten massiv in die Firma und wurden deren Eigentümer. 1913 beschäftigte die Fabrik 1000 Arbeiter, die 2500 Uhren im Tag herstellten. Tavannes war so etwas wie das China von La Chaux-de-Fonds. In Tavannes wurde hart gearbeitet, in La Chaux-de-Fonds fielen die Gewinne an.

Eine Villa von Le Corbusier

Etliche der Nachkommen der Viehhändler und Hausierer aus dem Elsass wurden sehr reich, zählten zur finanziellen und gesellschaftlichen Elite der Stadt, die sich ganz der Modernität verschrieben hatte. Die Juden von La Chaux-de-Fonds liessen eine der grössten und schönsten Synagogen der Schweiz bauen, förderten Kunst und Kultur. Anatole Schwob etwa engagierte den jungen Architekten Charles-Edouard Jeanneret, den späteren Le Corbusier zum Bau der Villa turque, heute ein bedeutendes Baudenkmal der Schweiz.

Der Glanz ist weg

Die grosse Zeit der jüdischen Uhrenbarone in La Chaux-de-Fonds dauerte rund 100 Jahre. Natürlich gibt es noch heute einige jüdische Uhrenunternehmen, aber sie sind nicht mehr so zahlreich und ihre Patrons sind nicht mehr im gleichen Masse prägend für La Chaux-de-Fonds. Überhaupt. Die einst so stolze und moderne Stadt hat an Glanz verloren.

Weshalb sind so viele jüdische Uhrenunternehmen verschwunden? Die beiden Kriege haben der gesamten Uhrenbranche schwer zugesetzt, noch schwerer dann die Quarzuhrkrise zu Beginn der 1970er-Jahre. Kommt dazu, dass die Zeit der patriarchalen Patrons definitiv vorbei war. Und zu guter Letzt waren nicht selten die Kinder oder Grosskinder der Pioniere nicht mehr auf der Höhe ihrer Vorfahren.

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