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Gesellschaft & Religion Wie Tunesien seine Folter-Vergangenheit hinter sich lassen will

Die tunesische Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine ist vor kurzem zur Präsidentin der neuen tunesischen Wahrheitskommission gewählt worden. Schon bald will sie erste Opfer der Ben-Ali-Diktatur befragen, doch die einstige Regimegegnerin steht selbst in der Kritik.

Nur wenige haben in Tunesien so lange und so hartnäckig für Meinungsfreiheit und Demokratie und gegen Unterdrückung gekämpft wie Sihem Bensedrine. Sie galt als Galionsfigur des Widerstands gegen das Regime von Ben Ali und erhielt mehrere Preise.

Die Stunde der Opposition

Im Januar 2011 wurde der tunesische Machthaber vertrieben. Es folgte die Stunde der Oppositionellen. Doch Sihem Bensedrine blieb seither eher im Hintergrund. Vor wenigen Wochen wurde sie nun zur Präsidentin der neu gegründeten tunesischen Wahrheitskommission gewählt, der «Instance Verité et Dignité».

Diese wichtige Kommission hat die Aufgabe, die Menschenrechtsverletzungen unter dem Regime von Ben Ali systematisch zu untersuchen und auf solche Weise die Tunesier mit ihrer Vergangenheit auszusöhnen. «Diese Aufarbeitung ist von grösster Bedeutung», sagt Bensedrine. «Wir können keine Demokratie aufbauen, solange wir nicht wissen, wie die Diktatur funktioniert hat». Nur so lasse sich eine Rückkehr der Diktatur verhindern.

Die ideale Person für das Amt?

Sihem Bensedrine hat nur wenig Zeit für Journalisten; ihr neues Amt fordert sie stark. Von aussen betrachtet, scheint Bensedrine die ideale Person zu sein, um dieses schwierige Projekt der Vergangenheitsbewältigung in Angriff zu nehmen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Ernennung von Bensedrine hat in Tunesien in den vergangenen Wochen eine heftige Kontroverse ausgelöst.

Bensedrine polarisiere zu stark, wurde moniert, und sie biete keine ausreichende Garantie für Unabhängigkeit und Neutralität dieser wichtigen Instanz. Wenn Bensedrine diese Kommission leite, dann werde aus dem Aussöhnungsprojekt ein Instrument der Rache, polterte ein landesweit bekannter Politiker. Säkulare Kreise warfen ihr zudem vor, sie habe geschwiegen, als gewalttätige Salafisten vor zwei Jahren Kulturzentren angriffen, Sufi-Heiligtümer zerstörten und Intellektuelle mit dem Tod bedrohten.

Bensedrine bestreitet diese Vorwürfe scharf. «Ich kann beweisen, dass ich nicht geschwiegen habe», sagt Bensedrine sichtlich aufgewühlt. Auch die Vorwürfe, sie pflege beste Beziehungen zur islamistischen Partei Ennahda oder habe gar Geld von Katar entgegengenommen, seien böswillige Unterstellungen. Dahinter steckten Agenten des ehemaligen Geheimdienstes unter Ben Ali und andere Kreise, die ihren Ruf beschädigen wollten.

Verworrene Sachlage

Als Beobachter aus dem Ausland ist es schwer auszumachen, was böswillige Unterstellung ist und was tatsächlich zutrifft. Dies hängt mit der reichlich verworrenen Sachlage, aber auch mit dem gegenwärtigen Zustand der tunesischen Medien zusammen: Spekulationen, Halbwahrheiten und aufgebauschte Berichte gehören bei den postrevolutionären Medien zum Alltag. Festzuhalten bleibt: Sihem Bensedrine hat die Unterstützung von grossen Teilen des säkularen Lagers und auch von ehemaligen Mitstreiterinnen aus der so genannten Zivilgesellschaft verloren.

Dieses Schicksal teilt Bensedrine nicht allein. Auch der tunesische Präsident Moncef Marzouki, der unter dem Ben-Ali-Regime nach Frankreich ins Exil flüchten musste, hatte sich als Oppositioneller stark für Menschenrechte engagiert. Heute werfen ihm viele Kritiker schlechte Amtsführung, arrogantes Auftreten und Machtgier vor. Klar ist: Ehemalige Regimegegner können, einmal an die Macht gekommen, Seiten entwickeln, die man ihnen zuvor nicht zugetraut hätte. Weshalb sollte die tunesische Revolution vor solchen Entwicklungen gefeit sein?

Die Kommission soll an ihrer Arbeit gemessen werden

Für Sihem Bensedrine ist diese ganze Debatte ermüdend. Man solle doch die Wahrheitskommission in Ruhe arbeiten lassen und sie dann an ihren Resultaten messen. Schon wenige Wochen nach den Wahlen sollen die ersten Befragungen von Opfern der Diktatur beginnen; zu diesem Zweck werden gegenwärtig überall im Land kleine Lokale eingerichtet und Mitarbeiter geschult.

«Wissen Sie, wir sind eine Art Anti-Minen-Einsatztruppe», sagt Bensedrine am Schluss unseres Gesprächs. «Wir sind da, um die Spannungen innerhalb der tunesischen Gesellschaft abzubauen, damit sich die Menschen versöhnen und sie ihre Zukunft ohne Komplexe und ihre Vergangenheit ohne Frustrationen anschauen können.» Trotz der vielen Schwierigkeiten bleibt Bensedrine optimistisch. Ihre Botschaft lautet: Wir müssen einen langen Atem haben. Aber wir werden es schaffen.

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