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Freiheit vs. Regulierung Wie viele Vorschriften verträgt der liberale Staat?

Vom Lautsprecherverbot bis zur Überwachung der elektronischen Kommunikation: Parlamente und Behörden produzieren ständig neue Vorschriften. Wird zu viel reguliert oder leben wir nach wie vor in einem liberalen Staat?

  • Vorschriften und Verbote schränken unsere Freiheit ein.
  • Nationalrat Matthias Jauslin ortet viel Spielraum zugunsten der Freiheit der Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz.
  • Staatsrechtler Markus Schefer weist darauf hin, dass Regeln nötig sind, um Interessenskonflikte aufzufangen.
  • JUSO-Präsidentin Funiciello fordert mehr Mitbestimmung für Betroffene: Grenzen auszuhandeln sei Teil des demokratischen Prozesses.

Zur Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus wird die Schraube angezogen. Paradebeispiel ist das neue Nachrichtendienstgesetz (NDG), das wohl am 1. September 2017 in Kraft treten wird.

Es erteilt den Behörden weitreichende Kompetenzen zur Überwachung der elektronischen Kommunikation. Eine Vorlage, die Grundrechte wie die Meinungsfreiheit gefährdet. Ähnliches geschieht in Deutschland oder in Grossbritannien.

Sind die Menschenrechte verhandelbar?

Die Premierministerin Theresa May erklärte kürzlich: «Wenn die Menschenrechte der Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus in die Quere kommen, werden wir diese Gesetze ändern, um der britischen Bevölkerung Sicherheit zu bieten.»

Stehen heute so grundsätzliche zivilisatorische Werte wie die Menschenrechte zur Disposition? «Die Menschenrechte sind eine Errungenschaft, die unsere Gesellschaft über Jahrhunderte erkämpft hat», sagt JUSO-Präsidentin Tamara Funiciello in der «Kontext»-Debatte. «Wie leichtfertig das jetzt von Theresa May in Frage gestellt wird, finde ich bedenklich.»

Wie den Terrorismus in Schranken weisen?

Markus Schefer, Staats- und Verwaltungsrechtler an der Universität Basel, betont: «Man muss sich dafür einsetzen, dass solche Suspensionen der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht in Frage kommen.»

Er weist darauf hin, dass die britischen Konservativen sich in den letzten Jahren sehr kritisch gegenüber der Europäischen Menschenrechtskonvention geäussert hätten, «weil sie ihrem politischen Programm halt hie und da in die Quere kommt.»

Auch Nationalrat Matthias Jauslin (FDP, AG) hält die Menschenrechte nicht für verhandelbar, fragt sich aber, ob Rechtssätze wie das Kriegsrecht noch richtig aufgestellt seien. Beim Terrorismus bekämpfen sich nicht Staaten, sondern Organisationen und Staaten. «Wie kann die Gesellschaft den Terrorismus in Schranken weisen? Denn auch durch Terrorismus werden Menschenrechte verletzt.»

«Kleine» Verbote

Nicht alle Regelungen zielen indes auf die grossen Gefahren und Probleme. Auch weniger existenzielle Bereiche werden geordnet: Der Kanton Thurgau kennt in seinen Wäldern ein Verbot von Paintball-Spielen.

In Basel-Stadt ist das Betreiben von Lautsprecheranlagen auf der Allmend, also vor allem am Rheinufer, bewilligungspflichtig. Die klassischen Glühbirnen wurden per Verbot aus den Regalen geworfen. Es existiert ein Pokerverbot ausserhalb konzessionierter Spielbanken, und freistehende Bäume werden – etwa im Kanton Aargau – kartografisch erfasst.

Das Leben im öffentlichen Raum braucht Regeln

Sind Verbote und Gesetze die Lösung für alles? «Wir haben sehr viele Verbote», stellt Nationalrat Jauslin fest, «das Parlament hat als Gesetzgeber die Möglichkeit, ein Gesetz zu verabschieden. Das Volk kann das Referendum ergreifen und eine Abstimmung lancieren. Wenn das Gesetz verabschiedet ist, sind die Ausführungsverordnungen zum Gesetz aber noch nicht geschrieben. Ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen oder eine Ausgangssperre für Jugendliche hat der Gesetzgeber so nicht gewollt. Dort müssen wir ansetzen. Dort wäre sehr viel Spielraum zugunsten der Freiheit der Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes.»

Risiken der Freiheit

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Legende: Keystone

Staatsrechtler Schefer sagt, er würde nicht alle genannten Beispiele «kleiner» Verbote in denselben Topf werfen: «Unsere heutige Gesellschaft lebt stark im öffentlichen Raum. Die Lebensform vor allem in den Städten produziert reale Interessenskonflikte, die entsprechend rechtlich aufgefangen werden müssen, um sie fair lösen zu können.» Damit nicht hundert Anwohner unter dem Lärm von 500 Festfreudigen zu leiden haben.

Mitbestimmung für alle

Da hakt JUSO-Präsidentin Funiciello ein: «Wichtig ist, dass in einer Situation nicht einfach die numerische Mehrheit entscheidet, was verboten wird. Es muss für alle die Möglichkeit der Mitbestimmung geben. Viele Verbote betreffen die Jugendlichen, die sich zum Teil auf politischer Ebene noch nicht beteiligen können, weil sie zu jung sind, oder Menschen ohne Schweizer Pass. Die Grenzen auszuhandeln ist Teil des demokratischen Prozesses.»

Gesetze, Verbote, Regulierungen – als Normalbürger blickt man da oft nicht durch. Doch die Hoffnung, dass Politikerinnen, Juristen und die Gesellschaft einigermassen den Überblick behalten können, stirbt zuletzt.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 27.06.2017, 9:02 Uhr

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