Zum Inhalt springen

Wieso ein Spaziergang befreit Schritt für Schritt aus dem Gedankenstau

Wenn im Kopf alles stillsteht, hilft häufig nur eins: Bewegung. Warum beeinflusst ein Spaziergang unser Denken?

Seit Stunden sitze ich vor dem Bildschirm. Ich recherchiere für eine neue Sendung, doch so wirklich fruchten will nichts. Es herrscht Gedankenstau.

Frustriert klappe ich den Laptop zu, ziehe Jacke und Turnschuhe an und drehe eine Runde im Quartier.

Den Kopf durchlüften

Erst stapfe ich genervt die Strasse entlang, die Gedanken kreisen ziellos weiter. Aber je länger ich gehe, desto ruhiger wird es in meinem Kopf. Ein Gedankenfaden knüpft sich an den nächsten und das Chaos lichtet sich.

Nicht nur innerlich verändert sich etwas, sondern auch äusserlich. Mein Gang wird ruhiger und regelmässiger, und mein Blick wendet sich von innen nach aussen. Plötzlich nehme ich meine Umgebung wahr.

Das Hirn beeindrucken

Dass Gehen guttut, ist seit jeher bekannt. Schon Aristoteles war der Ansicht, Gehen und Wandeln würden das Denken befördern. Aber wieso komme ich beim Gehen auf neue Ideen? Wie sind Bewegung und Gedanken miteinander verknüpft?

«Das hat unter anderem mit den neuen Eindrücken zu tun, die beim Gehen das Hirn stimulieren», erklärt die Medizinerin Anke Scheel-Sailer.

Dr. med. Anke Scheel-Sailer

Ärztin Paraplegiologie

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Anke Scheel-Sailer ist seit 2006 Ärztin der Paraplegiologie sowie seit 2014 Forschungsleiterin im Bereich Rehabilitationsqualitätsmanagement beim Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil.

Durch die frische Umgebung und die Sinneseindrücke würden andere Verbindungen im Hirn aktiviert. Deshalb wisse man auch, dass Lernen im Gehen sehr effektiv sei.

«Gehen ist ein Sicherheitsanker»

Aber nicht nur das Aussen spielt eine Rolle, sondern auch das Innen. Das Gehen, erzählt Anke Scheel-Sailer weiter, sei ein Ablauf, den wir seit frühster Kindheit verinnerlicht hätten. Wir wissen, dass wir das können.

«Gehen ist ein Sicherheitsanker. Ich bin gewöhnt so zu laufen, wie ich laufe.» Das helfe in Momenten, in welchen in unserem Kopf Chaos herrsche.

Zudem spüre man beim Gehen wortwörtlich die Bodenhaftung und einen Rhythmus. Beides stärke das Gefühl von Vertrauen: Ich kann es, ich habe es im Griff. «Auf dieser Gefühlsbasis können auch die Gedanken wieder freier fliessen», sagt Anke Scheel-Sailer.

Meine Spaziergänge regen also auch meine Gefühle an und diese wiederum beeinflussen mein Denken. Damit ist klar, wieso ich die Welt nach einer Waldrunde meist positiver betrachte und wieso meine Gedanken erst nach einer gewissen Zeit zur Ruhe kommen. Erst muss ich meinen Rhythmus finden und das Gefühl des Vertrauens spüren.

Vor diesem Hintergrund bekommt die Frage «Wie geht’s?» eine ganz neue Bedeutung.

Gedankenspaziergang für Eilige

Was aber, wenn mir die Zeit für einen Spaziergang fehlt? Manchmal helfe auch eine Minirunde im Büro, um die Gedanken wieder etwas in Bewegung zu bringen, so Anke Scheel-Sailer.

Natürlich sei ein Spaziergang an der frischen Luft nicht durch einen Gang zur Kaffeemaschine zu ersetzen. Aber gewisse Aspekte könne man trainieren.

«Wenn ich die Waldrunde regelmässig mache und die Umgebung, die Gerüche und den Rhythmus verinnerliche, dann kann ich das an anderer Stelle reaktivieren.»

Tage später sitze ich wieder vor meinem Laptop. Wie so oft kommt irgendwann der Punkt, an dem ich gedanklich in einer Sackgasse lande. Dieses Mal aber schliesse ich meine Augen, stelle mir die Bäume vor, die links und rechts «meinen» Waldweg säumen. Grün und gross. Ich atme tief ein und laufe zur Kaffeemaschine.

Und tatsächlich: Ich ertappe mich mit einem Lächeln auf den Lippen. Allein der Gedanke an «meine» Waldrunde scheint mich glücklich zu machen. Das schafft noch keine frischen Ideen, aber immerhin eine gute Basis.

Radio SRF 3, Input, 02.10.2022, 20:03 Uhr.

Meistgelesene Artikel