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100 Jahre Mandela Der Traum von Nelson Mandela hat sich noch nicht erfüllt

Nelson Mandela war Südafrikas erster schwarzer Präsident und Held einer ganzen Nation. Zu seinem 100. Geburtstag ist sein Vermächtnis allerdings kaum mehr zu spüren: Mandelas Vision von einer gleichberechtigten Regenbogen-Nation ist gescheitert.

«Maboneng» bedeutet «Ort des Lichts». Tatsächlich präsentiert sich das Quartier Maboneng am Ostrand der verruchten Johannesburger Innenstadt als hoffnungsvoller Garten Eden.

Bäume säumen die Trottoirs. Strassenkünstler buhlen um Käufer für ihre Waren: handgefertigter Schmuck aus bunten Glasperlen, aus Holz geschnitzte Elefanten oder Bilder in kraftvollen Farben.

Mural des jungen Nelson Madela mit Boxhandschuhen auf einer Hausfassade.
Legende: Ein 40 Meter hohes Mural erinnert im Quartier Maboneng an Mandela, entstanden wenige Tage nach dessen Tod 2013. SRF / Sandile Mdlalose / «I was shot in Joburg»

Touristen sitzen neben einheimischen Kulturschaffenden in Cafés, schwatzen über den Boom des Afro-Futurism dank Filmen wie «Black Panther» und lauschen Musik, die aus den diversen Clubs ertönt. In Maboneng wähnt man sich in Londons Hackney Wick, Berlins Prenzlauer Berg oder Zürichs Langstrassen-Quartier.

Ein Held mit Mängeln

Auch Nathi will ein Stück vom kosmopolitischen Kuchen ergattern. Der 29-jährige Kleinunternehmer versucht in Maboneng, Käufer für seine selbst entworfenen Schuhe zu finden.

Nach Ende der Apartheid im Jahr 1994 hat Nelson Mandela den 30 Millionen Schwarzen in Südafrika soziale und wirtschaftliche Gleichheit versprochen.

Doch dieser Traum hat sich bis heute für viele nicht erfüllt. Auch nicht für Nathi: «Nelson Mandela hat gekämpft. Aber ein Kampf, der nicht zu Ende geführt wird, hat sein Ziel verfehlt. Als würde man ein Geschäft aufbauen, um es dann gleich wieder zu schliessen.»

Zornig fügt er an: «Ich mache nicht ihn alleine dafür verantwortlich. Aber er ist der populärste der ANC-Truppe. Mandela hat uns verkauft.»

Schablonekunst, die Mandela zeigt, an einem Poller.
Legende: In Soweto, kurz für South Western Townships, heute ein Teil von Johannesburg, lächelt Mandela auf Schablonen-Werken. Soweto gilt seit dem Aufstand 1976 als Symbol des Widerstandes in der Apartheidsära. SRF / Sandile Mdlalose / «I was shot in Joburg»

Ähnlicher Meinung ist die Studentin Zama aus Soweto. Die 26-Jährige studiert Psychologie und Kommunikation. «Für mich ist und bleibt Mandela – oder wie wir ihn nennen – Madiba ein wahrer Held. Aber ein Held mit Mängeln in Führungsfragen. Er hat es nicht geschafft, seine Nachfolge im ANC, dem Afrikanischen Nationalkongress, so aufzustellen, dass seine Visionen weitergeführt wurden.»

Es folgte Ernüchterung

Zama spricht an, was viele junge Südafrikanerinnen und Südafrikaner empfinden. Auf die ersten hoffnungsvollen Jahre nach dem Ende der Apartheid folgte die Ernüchterung.

Video
Die Welt nimmt Abschied von Mandela
Aus Tagesschau vom 10.12.2013.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 29 Sekunden.

An Mandelas Beerdigung am 15. Dezember 2013 stellte Ahmed Kathrada, sein langjähriger Wegbegleiter und Mithäftling auf Robben Island, in seiner emotionalen Abschiedsrede fest: «Wir sind dankbar, dass sich das Leben vieler verbessert hat, aber leider nicht aller. Wir haben noch immer einen langen, langen Weg vor uns mit vielen Drehungen und Wendungen.»

Die Last auf Mandelas Schultern

Als Nelson Mandela 1990 nach 10'000 Tagen in Haft das Gefängnis verlassen durfte, waren die Erwartungen an ihn erdrückend. Er musste ein zutiefst gespaltenes, von Hass durchtränktes Land vereinen.

Poster, auf dem «Free Mandela» geschrieben steht.
Legende: Poster «Free Mandela» auf dem Constitutional Hill, einem ehemaligen Gefängniskomplex in Johannesburg. SRF / Sandile Mdlalose / «I was shot in Joburg»

Eine Herkulesaufgabe für einen 72-jährigen Mann, der fast drei Jahrzehnte die Entwicklungen der Welt nur aus der Ferne beobachten konnte.

Der Song «Nelson Mandela» der britischen Band «The Special AKA» und das weltweit übertragene Solidaritätskonzert von 1988 hatten ihn zur Kultfigur gemacht. Für die Pop-Generation, die noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt hatte, als Mandela 1964 auf Robben Island lebenslänglich inhaftiert wurde, war er ein Übermensch, ein Heiliger.

Am 11. Februar 1990 waren alle Augen auf ihn gerichtet. Der berühmteste politische Häftling der Welt, der Gefangene mit der Nummer 466/64, wurde als freier Mann von einer jubelnden Menschenmenge empfangen.

Wandgemälde an einer Kirche zeigt Mandela als jungen Boxer.
Legende: «Der Schattenboxer» an einem Gerichtsgebäude in Johannesburg von Künstler Marco Cianfanelli. SRF / Sandile Mdlalose / «I was shot in Joburg»

Längst war er zur Projektionsfläche geworden für Wünsche und Träume aller Art. In seiner ersten Rede ermahnte er: «Nur wenn wir alle diszipliniert zusammenstehen, ist uns der Sieg gewiss. Wir laden unsere weissen Mitkämpfenden ein, gemeinsam mit uns ein neues Südafrika zu schaffen.»

Mandela wollte es allen recht machen

Viele Schwarze glaubten nach den ersten demokratischen Wahlen 1994, die politische Macht bringe auch wirtschaftliche Teilhabe am Reichtum Südafrikas. «Wir haben nicht gekämpft, um arm zu sein», war aus ANC-Kreisen zu hören.

In seiner ersten Rede als Präsident verkündete Nelson Mandela: «Unser Plan ist es, Arbeitsplätze zu schaffen, den Frieden zu fördern und die Versöhnung und Freiheit aller Südafrikaner zu garantieren.»

Grosse Versprechungen

Der Afrikanische Nationalkongress, der die Wahlen mit 62 Prozent gewonnen hatte, versprach kostenlose Schulbildung. Er versprach Zugang zum Gesundheitssystem für alte Menschen und Minderjährige, Tausende von Wasser- und Stromanschlüsse für die Hütten in den Townships und Millionen neue Häuser.

Auch gegenüber den früheren Machthabern des Landes, den Weissen, war Mandela sehr entgegenkommend. Er wusste, nur wenn er seinen Kurs der Versöhnung beibehielt, würde Südafrika dringend benötigte internationale Gelder bekommen, um die Wirtschaft anzukurbeln.

Bronzestatue von Mandela vor den Union Buildings, dem Sitz der südafrikanischen Regierung in Pretoria.
Legende: Bronzestatue von Mandela vor den Union Buildings, dem Sitz der südafrikanischen Regierung in Pretoria. SRF / Sandile Mdlalose / «I was shot in Joburg»

«Mandela hat ein grosses Problem», schrieb die südafrikanische Zeitung Sowetan, «er will es allen recht machen.» Das war 1994, als die neue Regierung seit sechs Monaten im Amt war.

Madibas weise Sprüche

Einer, der Nelson Mandelas Aura und seinen starken Willen aus nächster Nähe erlebt hat, ist Ndaba Mandela. Mit 11 Jahren holte ihn sein berühmter Grossvater zu sich. Von heute auf morgen lebte Ndaba Mandela anstatt in einer Hütte in Soweto in der schicken Villa des Präsidenten von Südafrika.

In seinem soeben erschienenen Buch «Mut zur Vergebung – Das Vermächtnis meines Grossvaters Nelson Mandela» erzählt Ndaba, wie ihm als Teenager Madibas weise Sprüche zuweilen auf die Nerven gingen.

Er beschreibt, was ihn sein Grossvater lehrte: «Sobald die Feinde weg sind, wenden sich die Menschen gegeneinander.» Madiba war fest entschlossen, es in Südafrika nicht so weit kommen zu lassen.

Versprechen nicht eingelöst

«Mandela wollte Freiheit für alle. Aber er war umgeben von frisch gewählten Politikern, die seinen Traum nicht teilten, sich nur selber bereichern wollten. Nach seiner fünfjährigen Regentschaft ging es nur noch bergab», sagt Rulan, ein 36-jähriger Stadtplaner aus der Nordprovinz Limpopo. Nelson Mandela war sich dieser Gefahr bewusst.

In einem Interview mit dem Spiegel erklärte er 1990: «Niemand kann von einer Organisation, die 30 Jahre verboten war, erwarten, dass sie alle Probleme sofort löst. Das ist doch unrealistisch. Wir müssen Strukturen schaffen, die es dem ANC ermöglichen, seine Politik der breiten Bevölkerung näherzubringen.»

Er ergänzt aus heutiger Sicht schon fast prophetisch: «Zweifelsohne herrscht auch bei einigen Aktivisten eine gewisse Disziplinlosigkeit.»

Mandelas Vermächtnis verspielt

Tatsächlich wird Südafrika 20 Jahre später von Skandalen erschüttert. Regierungsvertreter bereichern sich auf Staatskosten. Der ehemalige Präsident Jacob Zuma musste zurücktreten, ist wegen Korruption und Vetternwirtschaft angeklagt.

Schwarz-weiss Foto, durch ein Fenster fotografiert.
Legende: Foto von Mandela am Chancellor House, dem ehemaligen Sitz seiner Kanzlei. Heute beherbergt das Gebäude ein Museum. SRF / Sandile Mdlalose / «I was shot in Joburg»

Die junge afrikanische Nation, die für ihre mehr oder weniger friedliche politische Transformation weltweit beklatscht wurde, offenbart ihre Abgründe.

Vuzi, ein 22-jähriger Student aus Johannesburg, ortet den Grund für diese Entwicklungen in der brutalen Vergangenheit: «Die Leute haben sehr gelitten unter der Apartheid. Sie wollen sich heute mit Hilfe der Korruption beschenken. Aber was darunter leidet, sind die grossen Ziele, die man uns versprach: zum Beispiel die kostenlose Schulbildung.»

Das Parlament hat 2018 mehr Geld für Schulbildung reserviert. Studierende aus armen Familien sollen davon profitieren. «Nur», meint Vuzi, «leben noch immer viel zu viele Menschen in Südafrika in Squatter-Siedlungen. Sie können weder lesen noch schreiben. Finden daher keine Arbeit. Und das fördert die Kriminalität.»

Armut ist weit verbreitet

Die Arbeitslosenquote liegt in Südafrika offiziell bei 27 Prozent. Jeder dritte Haushalt kann nur überleben dank den Sozialbezügen der Alten, Kranken und Invaliden in der Familie.

An jeder Strassenkreuzung in Johannesburg wird gebettelt, kreativ für eine kleine Spende getanzt oder ganz praktisch Windschutzscheiben geputzt.

Kriminalität ist hoch

Schuhmacher Nathi aus Maboneng, dem gentrifizierten Stadtquartier in Downtown Johannesburg, beobachtet den zunehmenden Frust seiner Generation. Er sieht ihn in den Augen der jungen Männer, die herumlungern, Flaschen einsammeln, auf einen Job warten.

Grafitto, das einen älteren Nelson Mandela zeigt, auf der Rückseite eines Hauses.
Legende: Nelson Mandelas Visionen sind nicht vergessen. Wandgemälde wie dieses hier in der Op De Bergen Street in Johannesburg erinnern täglich an sein Vermächtnis. SRF / Sandile Mdlalose / «I was shot in Joburg»

«Viele Südafrikaner sind wütend auf die Einwanderer aus Malawi, Zimbabwe, Sambia. Sie kommen hierher auf der Suche nach Arbeit, nach Geld. Weil sie nichts finden, werden sie kriminell», erzählt Nathi. «Ginge es uns Südafrikanern besser, könnten wir grosszügig sein. Afrika ist gross. Aber zuerst müssen wir zu Essen haben. Wir, die von hier.»

Hat Barack Obama eine Antwort?

Jedes Jahr am 18. Juli ist Mandela Day. An seinem Geburtstag gedenken die Menschen in Südafrika und der Welt des Friedensnobelpreisträgers. Dieses Jahr würde Mandela seinen 100. Geburtstag feiern.

Programmhinweis

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«Mandela: Der lange Weg zur Freiheit»: Der charismatische Idris Elba wandelt sich in dieser Filmbiografie nach Mandelas Memoiren vom hitzköpfigen Anwalt und Frauenhelden zum Landesvater: SRF 1, Samstag, 21. Juli, 22:45 - 01:05.

Am Abend vor dem Jahrestag hält in Johannesburg jeweils eine berühmte Persönlichkeit eine «Nelson Mandela Lecture», um sein Vermächtnis zu erneuern und jeden Einzelnen an seine Bürgerpflichten zu erinnern.

Dieses Jahr wird der ehemalige US-Präsident Barack Obama das Wort ergreifen. Man erwartet von ihm eine Rede über die Werte der Demokratie in Zeiten von Korruption und Wertezerfall rund um den Globus.

Der Fotograf

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«I was shot in Joburg» entstand 2009 als Sozialprojekt in Johannesburg. Der Architekt Bernard Viljoen organisierte Foto-Workshops für Strassenkinder. Ausgestattet mit Wegwerfkameras zogen sie durch Johannesburg und schossen Bilder.

Sandile Mdlalose (28) gehört zu den ersten Absolventen der Foto-Klasse. Heute ist er selbständiger Fotograf und arbeitet als Social Media Manager für «I was shot».

Hoffnung auf den Regenbogen

Nelson Mandelas grosser Traum war der Traum einer multikulturellen Regenbogen-Nation: «Friedlich untereinander und mit der Welt.» Heute ist von diesem Regenbogen-Gefühl wenig zu spüren. Aber die Hoffnung ist noch immer da.

Studentin Zama träumt den Traum weiter und spricht vielen jungen Südafrikanerinnen und Südafrikanern damit aus dem Herzen: «Ich wünsche mir, dass das Land von einem neuen Präsidenten regiert wird. Von jemandem, der uns eine Regenbogen-Nation vorlebt mit Chancengleichheit für alle.»

Sie träumt wohl von Nelson Mandela.

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