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Die Stadt der Zukunft – autofrei?
Aus Kulturplatz vom 27.11.2019.
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Fussgänger vor Autos Die Stadt der Zukunft gibt Fussgängern den Vortritt

Um attraktiv zu bleiben, müssen Städte neue Wege gehen. Ein wichtiger Faktor ist die «Walkability», die Fussgängerfreundlichkeit. Was macht Fussgängerfreundlichkeit aus – und wo steht die Schweiz?

«Die Stadt soll nicht den Autoverkehr ermöglichen. Sie ist für das Wohlbefinden und das Zusammenleben der Menschen da», schreibt Lewis Mumford in den 1950er-Jahren. Der amerikanische Architekturkritiker gilt damals als Freigeist – ja als militant – in einer Welt, die auf eines abfuhr: den Alleskönner Auto.

Was Mumford damals im Autoland Amerika in der Grossstadt New York vermisste, beschäftigt heute grosse und kleine Städte auf der ganzen Welt: die Walkability – die Fussgängerfreundlichkeit. Ein Begriff, der dafür steht, dass sich die Städteplanung weniger dem Auto widmen, sondern die Fortbewegung zu Fuss erleichtern soll.

Vorbild Rotterdam

Ein erster Schritt in Richtung Walkability – lange bevor sie zum Schlagwort wurde – war in Europa die Einrichtung von Fussgängerzonen. Vorläuferin war Rotterdam: 1953 wurde mit der Einkaufsstrasse Lijnbaan die erste Einkaufsstrasse Europas eröffnet. Eine Ladenstrasse nur für Fussgänger: Das war damals eine Revolution.

Eine Einkaufstrasse in Rotterdam aus den 50er-Jahren. Ein paar Menschen sind im Bild.
Legende: Schlendern und shoppen: Die Lijnbaan in Rotterdam, die 1953 eröffnet wurde, ist die erste Einkaufsstrasse Europas. KEYSTONE/SUEDDEUTSCHE ZEITUNG PHOTO/ Ursula Hair

Noch heute ist die Hafenstadt punkto Walkability vielen europäischen Städten voraus. «Rotterdam ist nicht die fussgängerfreundlichste Stadt der Welt, aber eine Vorreiterin, wenn es darum geht, die Stadt so fussgängerfreundlich wie möglich zu machen», sagt der Städteplaner Lior Steinberg.

Verweilen statt eilen

In den letzten zehn Jahren wurde das Zentrum Rotterdams zu einer Fussgänger-Oase umgebaut. Der Name «City Lounge» ist Programm: Entspannt wie in einer Lounge sollen sich Bewohner dort aufhalten – und sich zu Fuss von A nach B bewegen können.

Menschen sitzen am Hafen.
Legende: Eine gemütliche Stadtoase: Rotterdam will, dass Touristen und Rotterdamer in der Stadt verweilen. mauritius images/Jochen Tack/Alamy

Die Formel für mehr Fussgängerfreundlichkeit scheint simpel: Breitere Gehwege, weniger Autos, mehr Wohnungen für Menschen im Zentrum, weniger Parkplätze und viele attraktive, aufgewertete Plätze, die die Menschen zum Verweilen einladen. Die «City Lounge» soll ein lebendiger Stadtkern sein, der verbindet.

Fussgängerwege als Lebensadern Rotterdams: Dafür steht auch die «Luchtsingel». Die 400 Meter lange Fussgängerbrücke verbindet drei früher vernachlässigte Quartiere, die durch den Verkehr getrennt waren. Die Brücke, die fast gänzlich durch Crowdfunding finanziert wurde, wertet diese wieder auf.

Walkability als Allheilmittel?

Für Steinberg ist klar: Die Förderung von Fussgängerfreundlichkeit zielt auf mehr als zufriedene Fussänger ab: «Rotterdam will fussgängerfreundlich sein, damit die Leute nicht wegziehen», so Steinberg. Denn: Fussgängerfreundliche Städte sind attraktiv. Und attraktive Städte ziehen mehr Menschen – ob Arbeitskräfte oder Touristen – an.

Messbare Fussgängerfreundlichkeit

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Messbare Fussgängerfreundlichkeit
Legende: Keystone / DPA / FEDERICO GAMBARINI

Die Fussgängerfreundlichkeit eines Orts ist messbar. Das zumindest behaupten verschiedene Anbieter in den USA. Die Website «Walk Score» etwa schätzt auf einer Skala zwischen 0-100 ein, wie einfach Einkaufsmöglichkeiten erreichbar sind oder wie breit die Trottoirs der Strasse sind, in der das Haus steht. Das kann auch einen Einfluss auf den Preis einer Immobilie haben: Ein höherer Walk-Score bedeutet auch mehr Wert.

«Fussgängerfreundlichkeit hat viele Vorteile: Sie fördert die Sicherheit, das Wachstum, die Kreativität in einer Stadt», ist Steinberg überzeugt. Die Liste der Vorteile, die Verfechter der Walkability sehen, ist lang. Die kurze lautet: gesündere Menschen, mehr soziale Interaktion, ein besseres Business dank mehr Laufkunden. Und nicht zu vernachlässigen: weniger Autoabgase, die Mensch und Umwelt schaden.

Ein Blümchen, das noch wachsen darf

Für Monika Litscher vom «Verein Fussverkehr Schweiz» ist in der Schweiz noch viel Luft nach oben, auch wenn sich viele Städte hierzulande als fussgängerfreundlich einschätzen: «Der Fussverkehr ist noch ein kleines Blümlein auf dem Feld der Fortbewegung», sagt die Geschäftsleiterin des gemeinnützigen Vereins. Dem Fussgängerverkehr, so Litscher, müsse ein grösserer Stellenwert eingeräumt werden.

Fussgänger am Bellevue.
Legende: Das Zürcher Bellevue ist von Fussgängerfreundlichkeit weit entfernt: In Schweizer Städten besteht noch viel Verbesserungspotenzial. Keystone / Gaetan Bally

Wie sich Schweizer Fussgänger fühlen, kann man bis jetzt nur erahnen. Die verkehrspolitische Umweltorganisation «umverkehR» hat deshalb in einer Bevölkerungsbefragung erstmals detailliert erhoben, wie es Fussgängern und Fussgängerinnen in 16 Schweizer Städten ergeht.

Die Resultate der Umfrage , Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen– ein Teilprojekt des Projekts «GEHsund Städtevergleich Fussverkehr», das «umverkehR» zusammen mit dem Verein Fussverkehr und der Hochschule Rapperswil durchführt – werden bis Mitte 2020 vorliegen. Das Wohl des Fussgänger wird zwar durch eine solche Befragung in den Fokus gerückt, sie kann aber nur als Basis zur Weiterentwicklung der Walkability dienen.

Flâneur d’Or

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Flâneur d’Or
Legende: Als fussgängerfreundlich ausgezeichnet: die Westtangente in Zürich. Keystone / Tiefbauamt / Renderwerk

Alle drei bis vier Jahre prämiert der Fachverband Fussverkehr Schweiz fussgängerfreundliche Infrastrukturen mit dem Verkehspreis «Flaneur d’Or». 2014 beispielsweise wurde die Umgestaltung der ehemaligen Zürcher Westtangente West-/Sihlfeld-/Bullingerstrasse zu verkehrsberuhigten Quartierstrassen ausgezeichnet. 2011 die Umnutzung einer stillgelegten Trassees, eines Verkehrsweg, bei Naters. Unterstützt wird der Wettbewerb vom Bundesamt für Strassen.

Gemeinsam angehen

Für Monika Litscher ist die Walkability nämlich Teil eines grösseren gesellschaftlichen Wandels: der Verkehrs- oder auch Mobilitätswende, die sich weg vom Autoverkehr Richtung Fuss- und Veloverkehr bewegen soll. Dafür brauche es Unterstützung und ein Umdenken auf verschiedenen Ebenen: Politik, Städtebau, Städteplanung. Und vor allem eins: einen Wandel in den Köpfen.

Ein Mann steht neben einer Autostrasse.
Legende: Ist das Auto bald out? Monika Litscher vom Verein Fussverkehr Schweiz würde es sich wünschen. Keystone / Martial Trezzini

«Das Auto wurde als cool verkauft. Jetzt muss man das Fussgänger-Sein wieder cool machen», sagt Litscher. Der Fussverkehr, ist Litscher überzeugt, sei das Fortbewegungsmittel der Zukunft. Auch wenn die Schweiz sich in kleinen Schritten auf den Weg macht: Von einem fussgängerfreundlichen Land ist sie noch ein ganzes Stück entfernt.

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