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«Wo die Liebe hinfällt... »: Tinder - Junge Leute wischen sich zum Date
Aus HörPunkt vom 27.07.2018. Bild: SRF / Nino Christen
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Sehnsuchtsort Tinder Was Männer und Frauen mit Tinder treiben

Keine Dating-App ist bekannter und berüchtigter als Tinder: Geht es um unverbindlichen Sex oder den Partner fürs Leben?

Lesedauer: 10 Minuten

Sie tickt. Tickt und tickt. Immerzu. Und immer lauter. Lauter und lauter. Sie raubt ihr den Schlaf: die biologische Uhr meiner guten Freundin, nennen wir sie Jennifer.

Langsam muss sich Jennifer beeilen, wenn das mit dem Traumpartner und dem Nachwuchs noch etwas werden soll. Aber wo nur die Liebe finden?

Kann das gut gehen?

Angesichts der vorgerückten Lebenszeit ist Jennifer nicht mehr wählerisch. Das heisst: beim Partner natürlich schon. Aber nicht bei den Mitteln, diesen zu finden.

Also kommt auch Tinder infrage. Tinder, diese ominöse mobile Dating-App? Für eine seriöse Beziehung? Kann das gut gehen?

2012 lancierten ein paar Studenten der University of Southern California die App zunächst auf einigen amerikanischen Colleges als unkompliziertes mobiles Flirt-Tool. Von dort eroberte Tinder innerhalb eines Jahres die Dating-Welt, auch in der Schweiz.

Der Flirt kann beginnen

Offizielle Nutzungszahlen sind rar. Tinder sagt einzig, dass die App täglich 26 Millionen Menschen verbindet. Es gibt sie in 43 Sprachen. Hauptzielgruppe sind junge Erwachsene bis Anfang 30. Wenige sind älter als 50. Auf sechs Männer kommen vier Frauen.

Im Nu ist ein Konto erstellt: Die App greift auf Bilder und Informationen aus dem Facebook-Profil zu, noch ein paar zusätzliche Angaben zu bevorzugtem Geschlecht und Alter, und schon kann der Flirt beginnen.

Irgendwelche Datenschutz-Bedenken aufgrund der automatischen Datenübernahme? Das scheint die User nicht zu kümmern: Hauptsache schnell und unkompliziert.

Zwei Männer sitzen auf einer Treppe, etwas weiter oben steht eine Frau. Alle schauen auf ihr Smartphone. Sie sind durch eine gepunktete Linie verbunden.
Legende: Nach links oder nach rechts? Ein paar Sekunden entscheiden bei Tinder über ein mögliches Date. Getty Images

Keine langen Fragebögen

Seit Kurzem kann auch ohne Facebook-Konto ein Tinder-Konto eröffnet werden. Tinder weist in den Datenschutzrichtlinien allerdings darauf hin, dass die App einen Datenaustausch mit «Partnern» pflegt. Ein namentlich genannter Partner neben Facebook ist Amazon. Auf dessen Web-Infrastruktur läuft Tinder.

Müssen irgendwelche Fragebögen beantwortet werden, mit denen nach einem sagenumwobenen Algorithmus eine Partnerübereinstimmung erstellt wird? Nicht bei Tinder. Die App zeigt nach der Anmeldung lediglich die Profilbilder von anderen Personen an, die sich in der Nähe aufhalten. Geografische Handy-Ortung sei Dank.

Ein Mann sitzt auf einer Treppe. Er schaut lächelnd in ein Smartphone. Eine gepunktete Linie führt von ihm weg die Treppe hinauf.
Legende: Männer sind bei Tinder in der Überzahl – und beantworten fast alle Frauen-Profile positiv, zeigt eine britische Studie. Getty Images

Lieber weggewischt als blamiert

Wischt Jennifer nun das erhaltene Profilbild auf dem Handy-Screen nach links weg, war es das: Keine Sympathie, kein Date, kein Sex, keine Liebe. Mit einem Wisch nach rechts signalisiert Jennifer dagegen ein «Like»: Sie möchte in Kontakt treten.

Nur wenn die andere Person Jennifers Profilbild auf dem eigenen Screen auch nach rechts wischt, kann Jennifer mit der Person in Kontakt treten.

Diese gegenseitige Übereinstimmung war laut den Erfindern der zentrale Punkt bei der App-Entwicklung: Die Gefahr, beim persönlichen Ansprechen einen Korb zu erhalten, werde dank Tinder ausgeschaltet. Lieber weggewischt als blamiert werden.

Tindern ist wie Lose rubbeln

Auch Jennifer hat nun mit der Wischerei nach links und rechts begonnen. Manchmal zeigt sie mir die Fotos auf dem Handy – sie erinnern an Panini-Bildli. Zugegeben: Die App hat Spassfaktor. Das Wischen hat etwas von einem Gesellschaftsspiel oder von einem Rubbellos: Gewinn oder Niete?

Drei junge Leute stehen an einer Wand und schauen jeweils auf ein Smartphone. Über ihren Köpfen sind gepunktete Linien zu sehen, die sie miteinander verbinden oder aus dem Bild hinausführen.
Legende: Tinder macht die Partnersuche zu einem Spiel – aber nicht unbedingt zu einem leichten. Getty Images

Viele nennen das den Ausbund an Oberflächlichkeit. Ein Wecken niederer Instinkte. Aber: Es ist kaum etwas anderes, wenn man sich die Gäste in einem Lokal anschaut und die attraktivste Frau oder den attraktivsten Mann für sich ausfindig macht.

Mit dieser «Gamification» wird die Partnersuche spielerisch, sie verliert eine mögliche Verbissenheit. Aber sie wird damit nicht zum leichten Spiel. Wird meine Freundin auf diese Weise tatsächlich einen seriösen Partner finden?

Roher Sex oder Romantik?

Tinder ist öffentlich verschrien als Plattform für die schnelle Nummer: Schnell und einfach installiert, schnell und einfach kontaktiert, schnell und einfach koitiert. So wird schnell und einfach konkludiert. Doch stimmt das auch?

Aufgrund des kometenhaften Aufstiegs von Tinder zum weltweiten Dating-Phänomen mit einer einzigartigen Publizität sind erste sozialwissenschaftliche Studien entstanden. Die Ergebnisse zeichnen ein differenzierteres Bild, weshalb Tinder genutzt wird.

Mobiles Dating wird immer normaler

Eine niederländische Studie fand bei jungen Erwachsenen sechs Motive für den Gebrauch von Tinder: Liebe, Sex, einfache Art der Kontaktaufnahme, Selbstbestätigung, Nervenkitzel, Trend. Sind die Sexkontakte das stärkste Motiv? Nein: Der Wunsch, einen Partner zu finden, ist genauso gross – und das bei Frauen wie bei Männern.

«Einen Partner online zu finden, galt lange Zeit als Tabu. Unsere Studien zeigen, dass es mit Tinder unter jungen Erwachsenen immer normaler wird, einen seriösen Partner über mobiles Dating zu suchen», sagt Studienleiterin Sindy Sumter von der Universität Amsterdam. Die niederländischen Studienergebnisse stehen nicht alleine.

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Legende: SRF / Nino Christen

Es braucht immer ein wenig Glück, dass zwei Menschen zusammenfinden: Radio SRF 2 Kultur spürt einen Tag lang Geschichten nach, wie Menschen sich begegnet sind.

Eine britische Studie kommt zum gleichen Schluss. Bemerkenswert ist auch, dass zwei von drei Personen angeben, neben Tinder auch Kontaktanzeigeseiten oder Partnervermittlungsportale zu nutzen. Ginge es ihnen nur um Sex, wäre dies kaum der Fall.

Tinder, die Wisch-und-weg-App?

Im Gegensatz zum Liebesmotiv gibt es beim Sexmotiv jedoch grosse Unterschiede bei den Geschlechtern. Die Hoffnung auf eine heisse Affäre ist bei jungen Männern deutlich ausgeprägter als bei jungen Frauen. Die draufgängerischen Männer schätzen die einfache Art der Kontaktaufnahme via Tinder.

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Liebe in Zeiten von Tinder und Co
Aus Einstein vom 19.08.2021.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 43 Minuten 5 Sekunden.

Ausdruck davon ist gemäss britischer Studie, dass Männer praktisch alle Frauen-Profile positiv beantworten: Hat Mann mal eine Übereinstimmung (einen «Match») mit einer Frau erreicht, lässt sich dann immer noch entscheiden, ob es zu einem Treffen kommt oder nicht. Zum Verdruss mancher Frauen. Männliche Studienteilnehmer erklären ihr Verhalten damit, dass sie kaum einen Match erzielten, wären sie von Anbeginn wählerisch.

Frauen hingegen verhalten sich auf Tinder genau gegenteilig: Fast alle geben an, nur jene Profile zu liken, die sie auch wirklich attraktiv finden. Dieses Verhalten führt zu einer deutlich geringeren Anzahl an positiven Antworten. Was zum Verdruss der meisten Männer führt, die sich in ihrem wahllosen Verhalten unbewusst bestätigt sehen.

Links liegen gelassen

An diesem Punkt kommt das Motiv der Selbstbestätigung ins Spiel: Im Netz beklagen Tinder-User, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes links liegen gelassen werden. So kann sich der Wunsch nach Selbstbestätigung in Selbstentwertung verkehren.

Ein Mann und eine Frau liegen auf unterschiedlichen Studen einer grossen Treppe. Sie haben beide ein Smartphone in der Hand. Verbunden werden sie durch eine gepunktete Linie über die Treppe.
Legende: «Tindern» ist normal geworden – und gerade unter jungen Menschen längst kein Tabu mehr. Getty Images

Tinder ist also nur für attraktive Personen attraktiv, wenn es um Selbstbestätigung geht. Es untermauert damit das hinlänglich bekannte sozialpsychologische Phänomen, dass es attraktive Menschen im sozialen Leben oft leichter haben.

Der Tinder-Traumprinz

Als ich Jennifer das nächste Mal sehe, schwebt sie auf Wolke sieben: Sie hat ihren Traumprinzen auf Tinder gefunden. Er und sie haben in kurzer Zeit via Chat viele Gemeinsamkeiten ausgemacht. Sie teilen soziale Ideale und die Leidenschaft fürs Tauchen.

Kurz: Er muss es sein! Allein, der «Reality Check», ein erstes Treffen, steht noch an.

Der finanzielle Erfolg bleibt (noch) aus

Tinders Erfolg als Tischgespräch und Medienthema ist viel grösser als der finanzielle. Wie manch anderer amerikanischer Internet-Stern verfolgte auch Tinder zunächst einmal die globale Herrschaft.

Die Tinder-Betreiberin «Match Group» versucht nun mit kostenpflichtigen Zusatzdiensten, den Hype in bare Münze zu verwandeln. Wer etwa plötzlich einen Wisch nach links, also das Ablehnen eines Profils, abends allein im Bett bereut, kann dank Bezahlung diesen Fauxpas wieder rückgängig machen. Uff!

Keine Bedrohung für andere Partnervermittler

Eine finanzielle Bedrohung ist Tinder in der Online-Dating-Industrie (noch) nicht. Das grosse Geld machen Webseiten, die eine seriöse Partnervermittlung versprechen. Und diejenigen, welche ausdrücklich auf den nackten Sex fokussieren («Casual Dating»).

Dies gilt auch für die Schweiz, wie Daniel Baltzer sagt, der hierzulande einen Online-Dating-Vergleichsdienst unterhält. Entsprechend betreibt auch die Match Group neben Tinder klassische Kontaktportale und Partnervermittlungsseiten, etwa die namengebende Seite match.com.

Diese internationalen Seiten tragen hauptsächlich zum milliardenschweren Jahresumsatz der Gruppe bei. In ihrem Finanzreport 2017 betont die Match Group, dass die zahlungspflichtigen Tinder-Zusatzdienste stetig mehr genutzt würden, ohne konkrete Umsatzzahlen zu nennen. Tinder ist also vielmehr eine Ergänzung als eine Bedrohung des bisherigen Online-Datings.

Der Funke springt nicht über

Jennifer ist am Boden zerstört. Da hat sie ihren Tinder-Traum von einem Mann getroffen, mit dem sie sich bereits gemeinsame soziale Projekte und viele Tauchgänge in paradiesischen Meeresgründen ausgemalt hatte – und dann das: Er ist einen Kopf kleiner als sie!

Und noch schockierender: Obwohl sie doch so viele Gemeinsamkeiten zu haben schienen – die Chemie blieb kalt. Kein Funke, keine Reaktion. Das ist das wirklich Verstörende. Über die Körpergrösse hätte sie ja hinwegsehen können.

Was nun? Jennifers Uhr tickt weiter.

Was Tinder so attraktiv macht

Trotz allen Aufhebens revolutioniert Tinder weder das Paar- noch das Sexualverhalten: Treffen sich zwei über Tinder, entscheidet nicht der visuelle Faktor allein, was aus dem Date wird. Sondern auch andere «niedere Instinkte», etwa der olfaktorische Faktor: Zwei können sich riechen oder eben nicht.

Was aber macht Tinder so erfolgreich?

  • Online-Dating war noch nie einfacher, schneller und bequemer. Das sind bekannte Erfolgsgaranten von Web-Diensten, egal welcher Art.
  • Tinder ist eine neue Spielart im Online-Dating oder vielmehr im Online-Flirting. Die App ergänzt das bisherige Angebot und ist ein unterhaltsamer Zeitvertreib auf dem zuweilen beschwerlichen und langen Weg der Partnerfindung.
  • Obwohl als «Sexseite» verschrien, äussert sich Tinder nicht dazu. Die Plattform beschreibt sich als «die weltweit beliebteste App, um neue Leute kennenzulernen». Der Zweck des Kennenlernens bleibt offen. Genau das ist es, was die Fantasie anregt und der grosse Erfolgsfaktor ist.

Happy End, anders

Zur Ablenkung von ihrer zerbrochenen Tinder-Liebes-Utopie bewegt sich Jennifer auf einer anderen sozialen Internet-Einrichtung, bei der es um «Freunde» geht. Und dann ist er plötzlich da.

Ein Mann und eine Frau stehen an einer Wand und schauen jeweils auf einen Bildschirm. Eine Linie aus rosa Punkten verbindet ihre Körper.
Legende: Match! Doch der Zweck des Kennenlernens bleibt offen – der grosse Erfolgsfaktor von Tinder. Getty Images

Aus dem virtuellen Nichts aufgetaucht – nicht aus türkisfarbenem Wasser, aber Hauptsache: aufgetaucht! Der Traumjunge von damals auf dem Pausenplatz, in den jedes Mädchen insgeheim verliebt war.

Damals schaffte es Jennifer nicht, den Jungen anzusprechen. Mit zu vielen Schmetterlingen im Bauch lässt es sich halt kaum sprechen. Und jetzt ist dieser Junge als Mann wieder da. Sie nimmt diesmal ihren ganzen Mut zusammen und schreibt ihm.

Vielleicht helfen Online-Kontaktaufnahmen tatsächlich, Schüchternheit zu überwinden. Jedenfalls wird er ihr Partner und Vater ihres süssen Wonneproppens.

Die grossen menschlichen Sehnsüchte

Liebe geht oft verschlungene Wege. Online, offline oder beides. Mit und ohne Tinder. Die Dating-App spricht implizit alle grossen menschlichen Sehnsüchte an: innige Liebe, gigantischen Sex oder beides zusammen. Nicht selten bleibt es eine Sehnsucht.

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