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Verhängnis Verschwinden «Glaubst du, er ist tot?»

Wenn plötzlich ein Mensch verschwindet, bleiben Verwandte und Freunde zurück – und viele Fragen offen. Was löst das Verschwinden aus? Wie damit umgehen? Wie soll man Betroffenen begegnen? Die Wiener Psychologin Barbara Preitler hat auf dem Gebiet geforscht. Hoffnung helfe, sagt sie. Aber nicht ein Leben lang.

Dr. Barbara Preitler

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Dr. Barbara Preitler arbeitet als Psychologin, Psychotherapeutin und Supervisorin in Wien. Zahlreiche Publikationen, Vorträge und Seminare zu den Themen der interkulturellen Psychotraumatologie, Trauerbegleitung und psychosozialen Interventionen.

SRF: Wie lässt sich psychologisch beschreiben, was in den Angehörigen von Menschen vorgeht, die einfach verschwinden?

Barbara Preitler: Unsere normale Reaktion auf einen Verlust wäre zu trauern. Bei einem Verschwinden geht das aber nicht. Denn es bleibt immer offen, ob die Person nicht doch noch lebendig zurückkommt.

Die berühmte Mischung aus Hoffen und Bangen?

Genau. Entscheidend ist aber, dass das Verschwinden ein massives Verlusterlebnis bedeutet, das nur schwer oder gar nicht betrauert werden kann. Um nicht zu sagen: Es ist uns fast verboten zu trauern.

Kommt hinzu, dass jede Gesellschaft genau weiss, was man tut, wenn jemand tot ist. Aber was, wenn jemand verschwindet? Für diesen Fall kennen wir keine klaren Rituale. Solange ich keinen Körper habe, kann ich ihn nicht bestatten.

Man wird verzweifelt eine Vermisstenanzeige aufgeben.

Die erste Phase bei einem Verschwinden ist stark von dem Gefühl geprägt: Das ist jetzt eine kurze, chaotische Zeit, aber wir sind eh gleich wieder zusammen.

Es gibt Menschen, die ein Leben lang in der Hoffnung hängen bleiben.

Natürlich wird man auch schnell versuchen herauszufinden, was genau los ist – immer getragen von der Hoffnung, dass man den Menschen lebend wiederfindet.

Wie lange kann dieses Gefühl anhalten?

Ich habe von Frauen gehört, die noch immer auf ihre Verlobten warten, die im Zweiten Weltkrieg verschwunden sind.

Stark berührt hat mich auch die Geschichte einer jüdischen Frau in New York, die 1999 durch die Strassen von Manhattan ging. Sie war auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie zuletzt in Auschwitz gesehen hatte.

Es gibt also tatsächlich Menschen, die ein Leben lang in der Hoffnung hängen bleiben.

Kann die Psychologin so etwas ohne Vorbehalte gutheissen?

Das Warten kann Lebensbezüge verunmöglichen. Wenn diese Frauen den Verlust ihrer Verlobten als endgültig akzeptiert und betrauert hätten, hätten sie möglicherweise eine andere gute Beziehung eingehen können.

Buchhinweis

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Barbara Preitler: Ohne jede Spur... Psychotherapeutische Arbeit mit Angehörigen ‹verschwundener› Personen. Psychosozial-Verlag Giessen, 2006.

Als mir im Zuge der Recherchen für mein Buch klar geworden ist, wie viele Menschen vom Thema «Verschwinden» betroffen sind, habe ich nach einer archetypischen Figur gesucht und sie in Penelope gefunden.

Die Frau des Odysseus, die 20 Jahre auf ihren Gatten wartet.

Zehn Jahre lang weiss sie nicht, was mit Odysseus los ist – ist ohne eine Nachricht. Und was passiert? Penelope wird von Freiern belagert, die ihren ganzen Hofstaat in Unordnung bringen.

Indem sie ihr den Hof machen...

(Lacht) Penelope ist ein Zwischending, das nicht wie eine Witwe sagen kann: Ich heirate den da – alle anderen bitte verschwinden! Aber ebenso wenig: Ich bin die Ehefrau des Odysseus.

Gemäde: Ein Mann und eine Frau, sitzend in ein Gespräch vertieft
Legende: Ein Bild aus glücklichen Tagen: Odysseus und Penelope, die «Mutter» aller Verschwundenen (Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein) Wikimedia

Deshalb will sie sich erst für einen ihrer Verehrer entscheiden, wenn sie das Leichentuch für ihren Schwiegervater fertig gewebt hat, auf dem sie die Lebensgeschichte ihres Mannes erzählt.

Eine kluge Ausrede: Tagsüber sitzt Penelope für alle sichtbar am Webstuhl – und nachts trennt sie das Gewebte heimlich wieder auf.

Penelope arbeitet also doppelt hart daran, damit die Zeit stehen bleibt. Genau das ist das Archetypische für viele Angehörige von Verschwundenen. Wenn du wieder zuhause bist, knüpfen wir genau dort an, wo du weggegangen bist.

Ein Ding der Unmöglichkeit.

Ich habe es oft erlebt, dass es zu einem versteckten Trauerprozess kommt. Wenn der abgeschlossen ist und eine verschwundene Person kommt wieder, ist entweder die Beziehung ganz aus – oder es muss eine völlig neue aufgebaut werden.

Wie soll das gehen?

Es kann dann gelingen, wenn eine Drittperson mithilft, das Gespräch zu fördern. Die schaut, dass es gut läuft mit dem gegenseitigen Zuhören und Reden-Können. Auch wer zuhause gewartet hat, hat viel zu berichten.

Irgendwann muss ein Aussenstehender das Schreckliche das erste Mal aussprechen.

Wir kennen das von Holocaust-Überlebenden und den Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs. Die haben sich oft vorgestellt, wie sie nach Hause kommen – und es ist alles noch genau wie früher. Und dann erleben sie die wahnsinnige Enttäuschung, dass alles in Trümmern liegt. Und anstatt, dass man ihnen zuhört, will auch die andere Seite erzählen.

Vermisste in der Schweiz

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Nationale Zahlen zu vermissten Personen gibt es nicht. Die SonntagsZeitung führte eine Umfrage bei Kantonen durch, die im Januar 2018 publiziert wurde. 13 Kantone gaben aktuelle Daten an. Allein in diesen 13 Kantonen wurden im letzten Jahr 3354 Personen als vermisst gemeldet. Rechnet man die Daten der 13 Kantone auf die gesamte Schweiz hoch, sind das rund 4700 Vermisste pro Jahr – das sind knapp 13 Vermisste pro Tag.

Was wir daraus lernen können: Man muss wissen und anerkennen, was die andere Person in der Zwischenzeit geleistet hat. Und natürlich stellt sich auch die Frage, wie sehr man ich schuldig fühlt, die jeweils andere Person im Stich gelassen zu haben.

Wie soll sich ein Aussenstehender gegenüber einem Angehörigen verhalten, der auf einen Verschwundenen wartet?

Gut zuhören. Ihn reden lassen. Keine falschen Hoffnungen machen. Aber genau so wenig sagen, das wird nichts mehr. Ich weiss es ja nicht besser! Wichtig ist, hellhörig zu sein und sowohl mit der Hoffnung mitzuschwingen als auch mit beginnenden Trauerprozessen.

Ich würde mir manchmal einen Friedhof für die Menschen wünschen, von denen es keine sterblichen Überreste gibt.

Es kann aber sein, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt und ein Aussenstehender das Schreckliche das erste Mal aussprechen muss. Ich glaube, du glaubst, er ist tot. Oder als Frage: Glaubst du, er ist tot?

Warum muss man einen Angehörigen davor bewahren, das Wort «Tod» als Erster auszusprechen?

Das wäre für einen Angehörigen fast so, als würde er den Verschwundenen umbringen. Deshalb muss das ein Aussenstehender tun. Es darf aber nicht zu früh sein. Sonst kann der Angehörige es nur ablehnen.

Sie haben eingangs gesagt, es fehlten uns die Rituale, mit dem Verschwinden eines Menschen umzugehen. Erfinden Sie uns eines?

Bei uns in Wien gibt es einen «Friedhof der Namenlosen». Hier sind vor allem Körper begraben, die in der Donau angeschwemmt worden sind.

Der Eingang des sogenannten «Friedhofs der Namenlosen»
Legende: Ein Ort, wo Unbekannte ewig ruhen können: der «Friedhof der Namenlosen» in Wien. Imago / Volker Preusser

Ich würde mir manchmal auch das Gegenteil wünschen: einen Friedhof für diejenigen Menschen, von denen es keine sterblichen Überreste gibt. Damit die Angehörigen einen Gedenkort haben, an dem sie des Menschen gedenken können, der verschwunden ist.

Wir wissen nicht, wo eine verschwundene Person jetzt ist. Aber wir wissen, dass sie gelebt hat. Dass sie bei uns war. Mit uns in Beziehung stand. Das gilt es zu beleben und zu feiern.

Das Gespräch führte Stefan Gubser.

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