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«Vom Verschwinden... »: Der verschwundene Vater
Aus HörPunkt vom 08.06.2018. Bild: SRF / Nino Christen
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Zwei Söhne, ein Trauma Der Tag, an dem Vater verschwand

1981 verschwindet ein Mann spurlos im Neuenburgersee. Er lässt sechs Kinder und eine Ehefrau zurück – und taucht erst ein Jahr später wieder auf. Seine zwei Söhne erzählen.

«Als ich mit dem Fahrrad von der Schule nach Hause fuhr, sah ich meinen Vater mit dem Segelboot auf den Neuenburgersee hinausfahren. Erst abends, als er nicht mehr zurückkam, merkten wir, dass etwas nicht stimmt», erinnert sich Reinhart Meister, der jüngste der Söhne.

Das Bild des davonsegelnden Vaters hat sich bei den Söhnen Godfried und Reinhart eingebrannt – auch wenn die Geschichte inzwischen mehr als 30 Jahre zurückliegt. Denn von diesem Moment an war nichts mehr, wie es vorher war.

Lebt er noch?

Godfried Meister, damals 26 und schon ausgezogen, kehrte unverzüglich auf den elterlichen Hof in Ins zurück, um bei der Suchaktion mitzuhelfen. «Mit einem Schiff – von Cudrefin aus – suchten wir den See ab. Das war für mich emotionell sehr speziell. Weil wir überhaupt nicht wussten, was passiert ist. Lebt er noch?»

Ich sagte mir immer wieder: Solange ich ihn nicht tot sehe, ist er auch nicht tot.

«Bei mir ist dieser zweite Tag eine Art blinder Fleck. Ich weiss nicht, ob ich in die Schule gegangen bin oder nicht», erinnert sich Reinhart, der damals zusammen mit seiner jüngsten Schwester noch zu Hause lebte.

Was war passiert?

Sie fanden nichts – weder Schiff noch Vater. Die Fantasien wucherten ins Uferlose. «Allerdings war für mich klar gewesen, dass er einen Unfall gehabt haben musste. Dass er sich den Kopf angeschlagen hatte und jetzt irgendwo verletzt zu finden sein wird. ‹Solange ich ihn nicht tot sehe, ist er auch nicht tot›, sagte ich mir immer wieder», so Reinhart Meister.

Zeichnung von einem Boot im Schilf.
Legende: Das Boot wurde nach wenigen Tagen gefunden. Der Vater blieb verschwunden. SRF / Yvonne Rogenmoser

Nach zwei oder drei Tagen entdeckte ein anderer Segler das Schiff in der Nähe von Portalban. Vom Vater jedoch keine Spur. Die Suche ging weiter.

Inzwischen war die Polizei eingeschaltet. Hubschrauber, Suchhunde, Taucher waren unterwegs, ganze Schulklassen durchforsteten das Schilf des Neuenburgersees.

Vermisste in der Schweiz

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Nationale Zahlen zu vermissten Personen gibt es nicht. Die SonntagsZeitung führte eine Umfrage bei Kantonen durch, die im Januar 2018 publiziert wurde. 13 Kantone gaben aktuelle Daten an. Allein in diesen 13 Kantonen wurden im letzten Jahr 3354 Personen als vermisst gemeldet. Rechnet man die Daten der 13 Kantone auf die gesamte Schweiz hoch, sind das rund 4700 Vermisste pro Jahr – das sind knapp 13 Vermisste pro Tag.

Auf Vaters Spur

Das Radio verbreitete eine Suchmeldung, worauf sich eine Frau meldete: Sie habe den verschwundenen Vater aus dem Wasser steigen sehen.

Ähnliches bestätigt auch ein alter Mann, der mit einem Pendel bei der Suche half: Er könne die Spur des Vaters verfolgen von Ins aus bis nach Oberitalien – bis Pisa ungefähr.

Er wollte weg

«Das war der Moment, wo wir uns sagten: Jetzt müssen wir aufhören mit diesen Suchaktionen. Für mich war klar: Er ist gegangen. Das war eine Erleichterung. Er lebt. Aber ich hatte kein Bedürfnis, ihn weiter zu suchen. Wenn jemand so geht, dann hat er Stress. Und ich dachte, wenn ich ihn suche, dann wird dieser Stress für ihn nur noch grösser», erklärt Godfried Meister.

Zeichnung eines Flugzeuges.
Legende: Die Flucht aus seinem Leben hatte der Vater sorgfältig geplant. Per Flugzeug ging es ans andere Ende der Welt: nach Neuseeland. SRF / Yvonne Rogenmoser

Ähnliche Gefühle bewegten auch seinen Bruder Reinhart: «Da war zuerst einmal Hoffnung. Später kamen schon Gedanken, dass so eine Handlung verrückt und unverantwortlich ist denjenigen gegenüber, die er auf diese Art und Weise verlassen hat. Wut würde ja auch zu solchen Gedanken gehören. Die kam später. Im ersten Moment spürte ich einfach Hoffnung, dass wir ihn nicht verloren hatten.»

Ein vorbildlicher Vater

Sie hätten ihren Vater geliebt, erzählen beide Brüder: Bildhauer von Beruf, sehr praktisch veranlagt, sehr aktiv. Er habe mit ihnen viel unternommen: Bergtouren, Ausstellungen.

Ein liebevoller Vater, für sie ein Vorbild in Sachen Stärke. Zusammen mit seiner Frau habe er im Schlössli Ins gearbeitet, einer anthroposophischen Einrichtung für Kinder und Jugendliche, sehr engagiert. Überhaupt habe er sehr viele Leute gekannt.

Grosse Anteilnahme

Das habe entsprechend viel Solidarität ausgelöst, als er plötzlich verschwunden war und sechs Kinder und seine Ehefrau zurückgelassen hatte.

Er war ja ein intelligenter Mensch, der wissen musste, was er seiner Familie antut.

So viel Anteilnahme war hilfreich. Aber vor allem für den ältesten Sohn Godfried wurde es zuweilen zu viel, denn sie konfrontierte ihn täglich mit der Frage: Warum?

Raus aus der Enge

Warum ist er gegangen? Beide haben sie angenommen, dass ihr Vater damals aus Not gegangen war. «Aus grosser Not. Denn er war ja ein intelligenter Mensch, der eigentlich wissen müsste, was er seiner Familie antut, wenn er sie auf diese Art verlässt», meint Reinhart Meister. «Eine Schwäche von ihm war sicher, dass er über persönliche Dinge nicht gut sprechen konnte.»

Und dazu gehörte das Gefühl von Enge, von eingesperrt sein in dieser Ehe, in diesem Leben.

Immer wieder weiterziehen

Das Verschwinden zieht sich wie ein roter Faden durch die Biografie des Vaters. Nach dem Krieg zog der gebürtige Österreicher nach Deutschland, wo er für eine kirchliche Organisation beim Wiederaufbau mitgeholfen und seine spätere Frau kennengelernt hatte.

Er zog zu ihr nach Belgien, wo er sie, trotz der grossen Skepsis des Brautvaters, heiratete. Dieser bezweifelte sehr, ob ein Bildhauer eine Familie ernähren könne. Dass die Wahl seiner Tochter ausgerechnet auf diesen Mann gefallen war, passte ihm nicht.

Immer auf der Suche

«Vater wollte weg, suchte andere Wohnorte, andere Lebensweisen. Immer wieder redete und stritt er mit unserer Mutter darüber – auf Französisch, damit wir Kinder es nicht verstehen würden. Sie wollte nicht weg, sie war in Belgien verwurzelt», erzählt Reinhart Meister.

Für sie und die Kinder seien die grosse Familie, die Besuche bei den Grosseltern ein Vergnügen gewesen. Nicht aber für den Vater, der die Situation als «Spiessrutenlauf» erlebte.

Er hat gewartet, bis wir Kinder aus dem Gröbsten raus waren. Dann ist er gegangen.

1975 setzte sich der Vater durch. Die Familie zog in die Schweiz, die Kinder waren damals zwischen 10 und 18 Jahre alt.

«In der Schweiz hat er gewartet, bis wir aus dem Gröbsten raus waren – sechs Jahre lang. Dann ist er gegangen. Er hatte es geplant, von Ins nach Pisa, von dort nach Neuseeland. Für ihn war klar: Wenn wir Kinder ausgezogen sind, dann ist auch die Ehe zu Ende. Bei unserer Mutter war es genau umgekehrt. Sie hat sich gefreut auf ein Leben mit ihm nach den Kindern.»

Wiedersehen nach einem Jahr

1982, nachdem er ein Jahr lang spurlos verschwunden war, meldete sich der Vater plötzlich wieder. Er schlug ein Treffen vor, im Haus eines befreundeten Paares im Tessin.

Der älteste Sohn Godfried begleitete seine Mutter: «Klar, ich habe mich gefreut, wir haben uns umarmt. Aber ich bin dann schnell weggegangen. Mir war klar, dass dieser Moment in erster Linie für meine Mutter reserviert war. Nicht für mich».

Zeichnung von zwei Menschen, die im Zug sitzen.
Legende: Eine Reise ins Tessin – aber auch ins Ungewisse: Wie würde das Wiedersehen mit dem verschwundenen Vater sein? SRF / Yvonne Rogenmoser

Reinhart traf den wiederaufgetauchten Vater etwas später: «Auch ich hab’ mich gefreut. Weil er lebt. Aber er ist mir ganz klein vorgekommen. Ich sah auch, dass er sich schämte. Da war plötzlich ein anderes Vaterbild da. Eine Wut hatte ich nicht. Ich wollte ihn auch nicht kritisieren. Ich hatte Angst, dass er dann wieder verschwinden würde.»

Lose wiedervereint

Der Vater hatte sich für eine Therapie bereit erklärt, um die Sache mit seiner Frau zu klären. Ein Zurück allerdings gab es für ihn nicht. Es folgte die Scheidung.

«Für meine Mutter war das hart. Sie hätte ihn jederzeit sofort zurückgenommen. Verrückt! Doch er wollte nicht. Er hat ihr auch erklärt, dass er sie nie wirklich fest geliebt hatte.»

Ein Mann telefoniert in einer Wohnung.
Legende: Nach der Scheidung zog der Vater, gebürtiger Österreicher, nach Wien. Mit seinen sechs Kindern hielt er lose Kontakt. SRF / Yvonne Rogenmoser

Der Vater zog nach Wien, die Kinder hielten lose Kontakt und begannen zaghaft, jedes auf seine Art, sich mit dem zu beschäftigen, was der Vater hinterlassen hatte.

Wut und Enttäuschung

Er, der in Not war, hatte auch viel Not ausgelöst. «Zuerst lag der Fokus ganz deutlich auf unserer Mutter, die von ihm verlassen wurde. Aber: Er hatte ja auch uns verlassen», beginnt Godfried zu erzählen.

Reinhart fährt weiter: «Ich wollte eigentlich die Kunstgewerbeschule besuchen, habe dann aber in der Psychiatrie angefangen zu arbeiten. Das war kein Zufall, denn dort musste ich mich therapeutisch mit der Situation beschäftigen».

Ich habe nie wirklich von ihm erfahren, warum er gegangen ist.

Dabei seien dann auch die Gefühle hochgekommen, die eigentlich zu einem solchen Ereignis gehören: Wut und Enttäuschung. Dabei sei der Vater gleich nochmals «verschwunden»: «Ich konnte nicht mehr diese Nähe zu ihm erleben, die ich vorher hatte.»

Es bleibt die Frage: Warum?

Vater und Kinder haben versucht, die Sache gemeinsam aufzuarbeiten. Aber die Sprachlosigkeit blieb der rote Faden: «Ich bin eine Zeit lang zu ihm nach Wien gefahren, habe versucht, mit ihm zu reden. Doch ich habe nie wirklich von ihm erfahren, warum er gegangen ist. Hatte er sterben wollen? Ich hab’ mich nie getraut, ihn das direkt zu fragen», erinnert sich Reinhart Meister.

«Unser Vater konnte nicht mit Konflikten umgehen. Früher, als er noch zu Hause gewesen war, ging es am Mittagstisch oft sehr emotional zu und her. Unsere Mutter war sehr eifersüchtig – sie hatte auch allen Grund dazu – und hielt mit ihrer Meinung nicht zurück, konfrontierte ihn. Unser Vater jedoch verstummte, machte dicht. Hätte er reden können, wäre er vielleicht trotzdem gegangen. Aber nicht so.»

Auch sie, die Kinder, hätten nicht gelernt, mit Konflikten und unterschiedlichen Meinungen umzugehen, erzählt Reinhart Meister. «Ich musste mir das später – viele Jahre danach – erarbeiten.»

Zeichnugn von einem Mann, der einer Frau beim Essen hilft.
Legende: Im Alter gab es zwischen dem Vater und der Mutter wieder eine Annäherung. Das war nur möglich, weil sie dement wurde. «Sie stellte keine Ansprüche mehr an ihn», resümiert sein Sohn. SRF / Yvonne Rogenmoser

Der Vater blieb weiterhin auf Distanz, rückte aber mit den Jahren räumlich immer näher an die Schweiz. Als es seiner Exfrau schlecht ging, besuchte er sie regelmässig, pflegte sie liebevoll: «Da hatte er keine Angst mehr: Sie war dement und stelle keine Ansprüche mehr an ihn», resümiert Reinhart Meister.

Nähe – ohne Verlangen

Als die Mutter tot war, blieb der Kontakt der Kinder zum Vater bestehen. Er habe, erzählen die beiden Brüder, dann darüber reden können, wie er seine Kinder geliebt habe, dass er sie aber in seinem Engestress in ihren Wesensarten nicht wirklich wahrgenommen hätte.

«Immerhin», sagt Reinhart Meister: «Auch wenn das Drama um den verschwundenen Vater unsere Biografien nachhaltig geprägt hat, so sind wir Geschwister uns durch diese Geschichte nahe gekommen.»

2014 starb der Vater. Dement – auch er.

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