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Kinder aus dem Balkan, ein Mädchen hält die Schweizer Flagge in der Hand.
Legende: Seit 500 Jahren fliehen Menschen in die Schweiz, wie hier in den 1990er-Jahren Kinder aus dem Kosovo. Keystone

Zufluchtsort Schweiz Eine Flüchtlingsgeschichte der Schweiz

Viele politisch oder religiös Verfolgten suchten Zuflucht in der Schweiz. Sie wurden mit unterschiedlich offenen Armen empfangen. Eine Zeitreise mit dem renommierten Historiker Jakob Tanner.

  • Über die Jahrhunderte fliehen Menschen in die Schweiz, das beginnt bereits im Mittelalter.
  • Unter ihnen sind Berühmtheiten wie Ulrich von Hutten, Georg Büchner, Emma und Georg Herwegh oder Alfred Kerr.
  • Die Schweiz nimmt viele auf, die aus politischen, ethnischen oder politischen Gründen verfolgt werden. Aber nicht alle.

Schweizer Geschichte wird Weltgeschichte

Im 16. Jahrhundert kritisiert der deutsche Humanist Ulrich von Hutten Kirchenvertreter und ruft den «Pfaffenkrieg» aus. In der Folge droht ihm die Exekution. Von Hutten flieht in die Schweiz. Zwingli nimmt ihn auf.

Hutten zieht sich – schwer erkrankt – auf die Insel Ufenau im Zürichsee zurück, wo er 1523 stirbt.

In diesem Stück Schweizer Geschichte zeige sich Weltgeschichte, sagt Jakob Tanner, emeritierter Professor für Schweizer Geschichte der Universität Zürich: «Ufenau ist ein lokaler Ort, an dem sich europäische und weltgeschichtliche Verwerfungen widerspiegeln.»

Politisch und religiös Verfolgte

Mit der «Bartholomäusnacht» von 1572 wird die Schweiz zu einem Land für Glaubensflüchtlinge. Die Hugenotten werden in Frankreich gejagt, Zehntausende fliehen, unter anderem in die Schweiz.

Zur Person

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Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte am Historischen Seminar, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts-, Unternehmens- und Finanzgeschichte sowie Geschichte der Schweiz im europäischen Kontext.

In den einzelnen Orten und Kantonen gibt es ganz unterschiedliche Haltungen gegenüber Verfolgten. «Die schweizerische Eidgenossenschaft ist zu der Zeit keine zentrale Organisationseinheit», so Tanner.

Gewinn für die Schweizer Wirtschaft

Die Hugenotten bringen «frühkapitalistische Organisationsformen und die Textilindustrie mit», erklärt der Historiker. Sie bauen in den Städten, in denen sie sich niederlassen, neue Wirtschaftszweige auf, die es bisher nicht gibt.

In Basel beispielsweise beginnen sie Seide zu verarbeiten und investieren in den Grosshandel. Tanner: «Die grenzüberschreitenden Netzwerke der Hugenotten stärken die eidgenössische Präsenz auf europäischen und globalen Märkten.»

«Alle Staaten zerstören, ausser die Schweiz»

In den 1830er-Jahren, im Vormärz, fliehen viele, die im Vorfeld der 1848er-Revolution in Deutschland geächtet sind: Heinrich Heine nach Paris, Georg Büchner und Georg Herwegh nach Zürich. Bei seiner Heirat mit der rebellischen Emma Siegmund ist der russische Anarchist Michail Bakunin Trauzeuge.

Jakob Tanner zitiert Bakunin, der 1866 erklärt: «Unbedingt nötig ist die Zerstörung aller Staaten mit Ausnahme der Schweiz.» Bakunin schätzt die liberale Verfassung des Landes, in dem er, zusammen mit vielen andern politisch wie religiös Verfolgten, Zuflucht gefunden hat.

Buchhinweis

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Tanner, Jakob: «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert». München 2015.

Schweiz wird Einwanderungsland

In den 1880er-Jahren wird die Schweiz zum Einwanderungsland und zur europäischen Arbeitsmarktdrehscheibe. Diese Migration ist vor allem wirtschaftlich motiviert.

Die Industrie boomt, Eisenbahntunnel werden gebaut, später geht die Elektrifizierung voran. Auch eingewanderte Unternehmer werden aktiv. 1891 gründen Charles Brown und Walter Boveri die BBC in Baden.

Blick zurück in die Heimat

Trotz Widerständen lassen sich viele der Neuankömmlinge einbürgern. Tanner erzählt die ironische Geschichte über den Umbau des Basler Rathauses in den Jahren um 1900: «Es hiess, man habe den Turm deshalb so hoch gebaut, damit die Grossräte in die alte Heimat schauen können.»

1917, mitten im Ersten Weltkrieg, wird die Eidgenössische Fremdenpolizei geschaffen. Die Einstellung zur Einwanderung verändert sich. Es zeigen sich zunehmend sogenannte Überfremdungsängste. Die Einbürgerungshürden werden laufend erhöht.

Geschlossene Grenzen und die Ausnahmen von der Regel

Als 1933 in Deutschland die Nazis an die Macht kommen und 1938 Österreich angeschlossen wird, weist die Schweiz viele Flüchtlinge, vor allem jüdische Verfolgte, zurück. Die Einführung des «J-Stempels» ist eine antisemitisch motivierte Diskriminierung. Im August 1942 schliesst die Schweiz die Grenzen gegenüber Flüchtlingen.

Archivperlen

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Das Archiv von SRF ist ein fulminanter Fundus, ein audiovisuelles Gedächtnis, in Schwarz-weiss oder Farbe, analog oder digital. Wichtiges und Unwichtiges, Überholtes und allzeit Gültiges, Alltag und grosse Weltgeschichte.

Im Player von SRF sind eine Vielzahl von «Perlen», die Ihnen online zugänglich sind sowie im Archivkanal auf Youtube.

Es folgen Proteste aus der Bevölkerung, in der es viel Hilfsbereitschaft gibt. Auch in der Parlamentsdebatte über die Flüchtlingspolitik wird scharfe Kritik geäussert.

Die Abwehrmassnahmen werden daraufhin gelockert, doch an der Schweizer Grenze werden bis gegen Kriegsende viele bedrohte Menschen zurückgewiesen.

Grüninger und Lutz

Zwar haben damals alle Länder in der Flüchtlingspolitik versagt. Doch die Schweiz hätte mehr Verfolgte retten können. Es gibt viele mutige Helferinnen und Helfer, unter ihnen Polizeihauptmann Grüninger.

Oder, in Budapest wirkend, der Diplomat Carl Lutz, der durch das Ausstellen von Schutzbriefen und -pässen über 60‘000 ungarischen Juden das Leben rettet. Anders als in Schweden, wo Raoul Wallenberg nach dem Kriege für seinen Einsatz geehrt wird, erntet Lutz in Bern Tadel.

Und heute?

Heute ist der Ausländeranteil mit einem Viertel so hoch wie nie. Flüchtlinge aus zahlreichen Kriegsgebieten konfrontieren die Schweiz erneut mit der Frage, wie sie es mit ihrer humanitären Tradition hält.

Am Schluss bleibt für Tanner eine wechselvolle Geschichte von Hilfe und Zurückweisung. «Ohne Flüchtlinge und Einwanderer wäre die Schweiz heute nicht das, was sie ist. Wir haben allen Grund, die bereichernden Einflüsse und die positiven Impulse stärker zu beachten, als dies angesichts nach wie vor vorhandener Überfremdungsängste bis heute der Fall ist.»

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