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Zwetschgenkrieg – Pogrom in der Schweiz
Aus Kultur-Aktualität vom 13.12.2019. Bild: Wikimedia
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«Zwetschgenkrieg» Als man im Surbtal gegen die Juden zog

September 1802: Mit Heugabeln und Säbeln gingen Bauern, Handwerker und Patrizier auf die Juden los, die in Endingen und Lengnau lebten. Sie raubten und zerstörten deren Eigentum. Es gab viele Verletzte – aber immerhin keine Toten.

Der Historiker Martin Bürgin über das einzige Schweizer Pogrom gegen Juden, zu dem in Israel neue Dokumente aufgetaucht sind.

Martin Bürgin

Martin Bürgin

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Der Historiker und Religionswissenschafter ist Lehrbeauftragter am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich. Bürgin hat den «Zwetschgenkrieg» im Rahmen seiner Doktorarbeit erforscht.

SRF: Wie kam es zu dem seltsamen Namen «Zwetschgenkrieg»?

Martin Bürgin: Die Ursprünge liegen im Unklaren. Für die einen bezieht sich «Zwetschgenkrieg» auf die Zwetschgen, die man Ende September erntet.

In den zeitgenössischen Quellen spricht man auch vom «Bündelkrieg», der sich auf gestohlenen Stoff bezieht, oder vom «Bändelkrieg», der auf die Stoffbänder anspielt, die man sich damals um die Oberarme gebunden hat. Dieser Schmuck wurde vor allem von jüdischen Hausierern verkauft.

Beide Namen sind problematisch, weil sie romantisieren. Ich benutze den Begriff «Zwetschgenkrieg», weil er sich etabliert hat und später auch von den jüdischen Gemeinden selbst verwendet wurde.

Die Ausschreitungen geschahen im Jahr 1802. Das war die Zeit der Helvetischen Republik, die Tochterrepublik Napoleons auf eidgenössischem Boden. Dagegen gab es Aufstände der Konservativen. Die neue liberale Ordnung unter Napoleon versprach den Juden Emanzipation. War das ein Grund für den Angriff?

Ja. Im September 1802 kam es zu einem flächendeckenden Aufstand gegen die Zentralregierung. Diese Republik war ein zentralistisches Gefäss.

Die konservativen, föderalistischen Kreise haben zu einem Aufstand aufgerufen, der als «Stecklikrieg» in die Geschichte einging. Im Anschluss an diesen Krieg kam es dann auch zu diesen antijüdischen Ausschreitungen.

Dementsprechend wurde der «Zwetschgenkrieg» als Ausschreitung gedeutet, die von konservativen oder antihelvetischen Kräften begangen wurden.

In den Zeugnissen aus der Zeit erklären die Täter, weshalb sie die Juden attackierten. Die einen sehen die Juden als die Drahtzieher der Revolution, als die Drahtzieher dieser Helvetischen Republik.

Die einen sehen die Juden als die Drahtzieher der Revolution, als die Drahtzieher dieser Helvetischen Republik.

Andere argumentieren gerade umgekehrt und sagen, sie seien gegen die Juden losgezogen, weil sie die Profiteure der alten regierenden Kräfte waren.

Wieder andere haben sich einfach aus ökonomischen Gründen am Pogrom beteiligt, um Schuldscheine zu vernichten oder Güter zu rauben. Nochmals andere haben religiös argumentiert.

Spannend daran ist vielleicht auch: All diejenigen, die von Zurzach her gegen die Juden zogen, kamen direkt von einer religiösen Prozession und zogen im katholischen Ornat und mit dem Kreuz ins Surbtal.

War dieses Pogrom ein plötzlicher Gewaltausbruch oder war es von langer Hand geplant?

Geplant war es auf jeden Fall, von langer Hand glaube ich nicht. Zu Pogromen kommt es häufig, wenn es zu einer Machtimplosion kommt. Die geschah hier während des «Stecklikrieges», als es keine Staatsgewalt mehr gab und entsprechend gab Raum für diese Ausschreitungen.

Was steht in diesen Dokumenten, die aus einem Privatnachlass stammen und in einem israelischen Auktionshaus aufgetaucht sind?

Das Dokument berichtet von diesem «Zwetschgenkrieg» in Kürze. Zum anderen verweist es auf einen Fastentag, der zwischen Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahr, und Jom Kippur eingerichtet wurde.

In der Zeit betet man häufig Gebete, die daran erinnern, wie dem jüdischen Volk Schaden zugefügt wurde und dankt Gott wird für die Erlösung. Es ist ein Dankgebet an Gott.

Wirft das Dokument ein neues Licht auf Ihre Forschung?

Nein. Es ist aber spannend, weil es bestätigt, dass es mit diesem Fastentag eine Erinnerung an den «Zwetschgenkrieg» gab. Und für einen musealen Kontext ist es wertvoll, ein Dokument aus jüdischer Hand zu haben.

Das Gespräch führte Irène Grüter.

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