Zum Inhalt springen

Hoffnungsvoll ins 2022 Philipp Tingler erträumt sich sein Jahr 2022

Gute Vorsätze? Fehlanzeige. Unser Autor wünscht sich für das neue Jahr weniger Biederkeit und mehr Humor – und zieht Lehren aus dem Baumarkt.

Mein Traum fürs neue Jahr ist, dass ich aufwache. So wie Pamela Ewing in «Dallas». Falls Sie alt genug sind, sich an «Dallas» zu erinnern (falls nicht: googeln Sie’s). Und alles, die gesamte letzte Staffel, war nur ein Traum. Wie super wäre das denn.

Aber Sie haben mich wohl eigentlich gefragt, was ich mir wünsche, was ich befürchte, was ich gerne erleben würde im kommenden, vor uns liegenden Jahr 2022. Nun, das ist sehr einfach. Ich behandle die Punkte der Reihe nach:

1. Was ich mir wünsche

Aller Hoffnung zum Trotz wünsche ich mir eine neue Season von «Great News» auf Netflix. Und dass Larry David den Literaturnobelpreis gewinnt. Und dass Adele mal ein anderes Lied singt.

2. Was ich befürchte

Noch mehr Celebrity-Prekariat im Realitätsfernsehen. Noch mehr Identitätstexte im Literaturbetrieb. Noch mehr Moralisierungen. Noch mehr Dummheit, die sich als Freiheitskampf geriert. Die Rückkehr der Latzhose. Die befürchte ich jedes Jahr, seitdem ich dabei bin, während uns dieser zerbeulte, korrumpierte Planet durch den Raum dreht, eine arme gestauchte Kugel, da viele Blumen früh geknickt, doch der Unrat schwappt und wuchert ... oh, und noch mehr Leute, die auf Twitter erklären, jetzt mit Twitter aufzuhören. Brauchen wir auch nicht.

Mann mit Jeans-Latzhose steht am Strand, dreht dem Meer den Rücken.
Legende: Die Hölle, das sind die Latzhosen: Autor Philipp Tingler befürchtet jedes Jahr aufs Neue ein Revival. IMAGO / Westend61

3. Was ich gerne erleben würde

Das scheint zunächst eine Frage zu sein, die Vorsätze betrifft. Wenn Sie mich nach Vorsätzen fragen, sage ich: Meh. Ich kann das auch als etwas ausführlichere Vorsatzkritik formulieren: Mit Liebe und Leidenschaft glaube ich an die Kraft des Vorsatzes und die Tugend der Selbstverbesserung.

Wenn Sie nicht immer dieselben Debatten führen wollen, führen Sie sie einfach nicht.

Aber Psychologen warnen davor, sich mit zu vielen und zu hoch gesteckten Zielen zu überfordern. Oftmals haben sogenannte gute Vorsätze nach Ansicht dieser Fachleute gar keinen Bezug zur Realität. Sie seien von unerreichbaren Wünschen geprägt: nicht immer dieselben Debatten mit seiner besseren Hälfte zu führen, zum Beispiel, oder die Spanischstunden wieder aufzunehmen, oder die Klavierstunden, oder sich als Veganer ganz nach unten in die Nahrungskette zu begeben. Oder ein bisschen netter zu seinen Mitmenschen zu sein. Obschon dies allen menschlichen Instinkten zuwiderläuft und wesentlich schwieriger ist als beispielsweise Dirty Sprite über ein Darknet-Postfach zu verkaufen.

Hier ein kleiner Tipp: Wenn Sie nicht immer dieselben Debatten führen wollen, führen Sie sie einfach nicht.

Pflegen Sie Ihre konventionelle Note. Die ist nicht zuletzt ein Empfinden für Takt und Manierlichkeit.

Also: Was ich gerne erleben würde? Gerne das Abflachen dieser neuen Biederkeit mit ihren spätmodernen Pseudowertvorstellungen wie Agilität oder Achtsamkeit. Es ist dies eine Biederkeit, die sich oft in einer forcierten Kreativität und Originalität darstellt. Nun gibt es nichts Peinlicheres als erkünstelte Unkonventionalität. Also noch ein kleiner Tipp: Pflegen Sie Ihre konventionelle Note. Die ist schliesslich nicht zuletzt ein Empfinden für Takt und Manierlichkeit. Wagen Sie es, innerhalb der Box zu denken. Vielen Dank.

Was ich sonst noch gerne erleben würde? Mehr Unbefangenheit. Humor. Wir leben in Zeiten, die ein neues Denken verlangen, aber dabei reichlich humorlos erscheinen. Doch gibt es kein Umdenken ohne Humor. Jedenfalls nicht in Richtung des Fortschritts; höchstens in Richtung der Unfreiheit.

Vergessen Sie jedes Lebensmotto, das Sie als Wandtattoo im Baumarkt kaufen können.

Einer meiner Helden ist Prinz Philip. Über den die Queen gerade in ihrer Weihnachtsansprache sagte, er hatte das Vermögen «to squeeze fun out of every situation». Dahinter steckt eine Lebenshaltung und zugleich eine feine Subversion. Die Verbindung von Humor und Kritik ist elegant. Humor ist für mich der Zustand völliger Geistesgegenwart, eine Übung in der Praxis wacher Präsenz.

Man schaut lächelnd in die Kamera und hebt seinen Hut.
Legende: Prince charming: Der Duke of Edinburgh verband Humor mit Eleganz. REUTERS / Yui Mok / Pool

Epikur hat gesagt: Glück ist Vergnügen. Ich sage: Glück ist Humor. Auch wenn mein Ehemann aus diesem Essay die drastischsten Pointen entfernt hat, damit ich nicht zu bitter wirke.

Zum Beispiel: Vergessen Sie jedes Lebensmotto, das Sie als Wandtattoo im Baumarkt kaufen können. Wie «Do more of what makes you happy». Oder «Lebe jeden Tag als ob es der letzte wäre». Ich werde Ihnen jetzt mal was sagen: Niemand lebt nach dieser Regel. Nicht mal Keith Richards. Denn sie geht nur ein einziges Mal auf. (Allerdings umso früher, je strenger Sie sich an sie halten.)

Bunter Text auf einer Tafel.
Legende: Tönen gut, taugen nichts: Kalendersprüche. IMAGO / Lindenthaler

Falls Sie unbedingt ein Selbsthilfeziel brauchen, empfehle ich wieder einmal: «Mache 15 Minuten nach dem Aufwachen erstmal gar nichts». Das habe ich noch nie im Baumarkt gesehen. Aber ich bin auch sehr selten im Baumarkt. Wohl auch im nächsten Jahr. Mal sehen. Erstmal freue ich mich darauf, wieder die Welt zu sehen.

SRF 1, Neujahrsansprache mit Bundespräsident, 1.1.2022, 19:25 Uhr

Meistgelesene Artikel