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Martin Luther King am 28. August 1963: «I Have a Dream»
Aus Kultur Extras vom 24.08.2013.
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Erinnerung an einen Traum «I Have a Dream» – die Rede, die ganz anders geplant war

Martin Luther Kings Rede wird als eine der besten, von vielen gar als die beste Rede des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Über 15 Minuten lang hat sich eine kurze Passage zum Mythos verselbstständigt, die immer wieder durch die meistzitierte Textzeile strukturiert wird: «I Have a Dream».

28. August 1963. Lincoln Memorial, Washington. Mehr als 200 000 Menschen sind zu einer Veranstaltung gekommen, bei der es um «Arbeit und Freiheit» geht. Es geht um die Aufhebung der Rassentrennung, um die völlige Gleichstellung der weissen und afroamerikanischen Bevölkerung. Die politische Stimmung in Amerika ist stark aufgeladen, schrieben Zeitzeugen. «The March On Washington for Jobs and Freedom» wird zum Höhepunkt der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, was aus dem Moment heraus, damals am 28. August 1963 niemand ahnen sollte. Im Gegenteil.

Die 200 000 Menschen, die gekommen waren, hatten bei brütender, schattenloser Hitze bereits mehrere Stunden Reden gehört. So machte sich eine apathische Stimmung breit, die Norman Mailer, der grosse amerikanische Publizist sinngemäss einmal so beschrieben hat: Es sei gewesen wie bei einem Footballspiel, in dem es kurz vor Spielende 11:3 für die Heimmannschaft stehe.

Sag bloss nicht «I Have a Dream»

In dieser Situation, in dieser Stimmung geht Martin Luther King raus und hält seine Rede. Die hatte er in der Nacht vorher mit seinem engsten Berater Wyatt Walker diskutiert. Walker hatte ihm Teile der Rede aufgesetzt und ihm in der Nacht noch dringend geraten, auf die Zeile «I Have a Dream» zu verzichten. Er habe sie vorher bereits zu oft benutzt, sie sei etwas abgedroschen und klischiert. Walker sagt King, die Rede am Lincoln Memorial müsse etwas nie Dagewesenes sein, kein Rückgriff auf Altbekanntes.

Diese Warnung Warkers betraf eigentlich eine Fähigkeit Martin Luther Kings: King hatte hunderte Zitate, Anleihen, Paraphrasierungen «auf Lager», die er im jeweils richtigen Moment abrufen konnte. In der «I Have a Dream»-Rede zitiert er vollends unaufwändig das Alte und Neue Testament, die Unabhängigkeitserklärung, die Gettysburg Note von Abraham Lincoln, den grossen amerikanischen Autor James Baldwin, Gospellieder, Predigten, um nur einige wenige zu nennen. Und King machte das in seiner ihm eigenen einzigartig leichten Art. Aber diesmal sollte er auf «I Have a Dream» verzichten.

Und tatsächlich: in allen erhaltenen Manuskriptversionen der Rede fehlt die berühmteste Zeile.

Die geschriebene Rede funktioniert nicht

Martin Luther King tritt ans Podium und hält die gut geschriebene Rede. King liest ab - Zeit zur Vorbereitung hat sich an diesem 28. August keine finden lassen. Immer wieder reagiert das Publikum. Zwischenrufe, wenn auch wenige. Immer wieder Applaus. Aber der Funke will nicht springen. Das merkt auch King. Die Rede dauert bereits mehr als 10 Minuten, King nähert sich schon dem Ende, er kommt an die Stelle, an der er fast einen Missionsauftrag gibt, die Botschaft weiter zu tragen: «Go back to Mississippi, go back to Alabama, go back to South Carolina, go back to Georgia, go back to Louisiana.»

«Tell 'em about the dream, Martin.»

Und in die Kunstpause, die er setzt, reagiert das Publikum. Aber es reagiert noch jemand. Mahalia Jackson, die wohl grösste amerikanische Gospelsängerin und eine der engsten Vertrauten Martin Luther Kings ruft in diese Pause, wohl nur von den nächsten auf dem Podium zu hören, aber von unzähligen Ohrenzeugen überliefert: «Tell 'em about the dream, Martin.» «Erzähl das mit dem Traum».

Mahalia Jackson hatte kurz vorher, im Juni 1963 eine Rede Kings gehört, in der er diese Zeile eingesetzt hatte und sie war zutiefst bewegt gewesen.

Aber King klebt weiter am Manuskript: «Go back to the slums and ghettoes of our northern cities, knowing that somehow this situation can and will be changed...»

Kunstpause. Die Menschen reagieren, aber noch immer will der Funke nicht springen. Jackson ruft das zweite Mal, lauter. «Tell 'em about the dream, Martin.» King schiebt das Manuskript zur Seite. In diesem Moment, schreibt Wyatt Walker später, in diesem Moment habe er gewusst, jetzt gehen sie alle in die Kirche, aber sie wissen noch nichts davon. Jetzt kommt die richtige Predigt.

Martin Luther King improvisiert

King hat Jackson gehört. Er reagiert. Die Warnung seines Freundes und Beraters Walker im Ohr, sagt er nicht «I Have a Dream». Er sagt: «I still have a dream.» Und dann kommt die wohl berühmteste Passage. Ex tempore – im Moment, im Augenblick. Auf den alten Filmaufnahmen kann man nicht sehen, wie King das Manuskript zur Seite schiebt, aber man sieht, wenn man es weiss, wie sich King vom Manuskript löst: über zehn Minuten lang klebte er am Blatt, ab dem zweiten Zwischenruf von Jackson spricht er frei, sein Blick in die Menge gerichtet, in den Himmel, zu jemandem, der neben ihm steht.

Nach dem ersten Satz der «I Have a Dream»-Passage ist die Reaktion der Menge stärker als alles vorher. King spürt: der Weg ist jetzt der Richtige. Er erfindet und benutzt die Zeile als Refrain. Es funktioniert. Das Leitmotiv ist gefunden.

Er schaut nach der Passage noch einmal in sein Skript, dann entwirft er aus dem Bauch heraus das nächste Leitmotiv: «Let freedom ring». Die geschriebene Rede hat ausgedient, er kehrt nicht mehr zu ihr zurück. Die beiden Passagen, die die Zeiten überdauern, sind die, die er im Augenblick erfunden hat.

Zur Person

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Daniel Perrin, 1961, ist Professor für Medienlinguistik und leitet das Institut für Angewandte Medienwissenschaft (IAM) in Winterthur. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind Medienlinguistik, Textproduktionsforschung, Berufliches Schreiben, Transdisziplinarität und Angewandte Linguistik.

Was diese Rede so grossartig macht

Spricht man mit einem der wohl fundiertesten Schweizer Sachverständigen für öffentliches Storytelling, mit Professor Daniel Perrin über «I Have a Dream», dann ist diese Rede auch für ihn die wohl grösste des 20. Jahrhunderts. Perrin sagt, King habe keine Zeit zur Vorbereitung gehabt, er sei in einer politisch hochexplosiven Situation hinaus getreten und alle hätten mit einem Angriff auf die weisse Bevölkerung, mit Konfrontation und Eskalationsstrategien gerechnet. «Aber was macht King? Er bietet den amerikanischen Traum für alle - also für die Weissen und für die Afroamerikaner - als Möglichkeit an. Als Vision. Und das, um Gewalt zu vermeiden.»

Drei Dinge an dieser Rede seien für ihn grossartig, so grossartig, dass diese Rede bis heute «outstanding» ist, sagt Perrin: «Das erste ist, dass King die Gleichberechtigung der afroamerikanischen Bevölkerung als bereits im amerikanischen Traum verankert beschreibt, deshalb die Bezüge auf Lincoln. Die Gleichberechtigung ist also keine nachträgliche Forderung sondern gehört zu den Grundlagen der Nation. Er bietet Amerika als Ganzem eine Vision an.

Das zweite ist, dass Martin Luther King Teile der Rede improvisiert hat. Er hat aus dem Moment heraus reagiert. Dazu ist es notwendig, dass man hinhört, ins Publikum hinein hört. Im Grunde ist diese Rede eine Gospel-Improvisation.

Und das Dritte ist, dass er diese Rede für alle Amerikaner, egal welcher Hautfarbe, Religion, politischer Zugehörigkeit spirituell aufgeladen hat. Durch all dies, hat er nicht nur die afroamerikanische Bevölkerung auf dem Weg zu ihrer Gleichberechtigung einen Schritt vorwärts gebracht und befreit, er hat auch die Weissen befreit - von ihrem Gefühl der Schuld.»

Und heute?

Vergleiche man das mit heutiger politischer Rhetorik, dann sei zu beobachten, dass im Zeitalter der Teleprompter, der vorgefertigten Reden geschrieben von Ghostwritern nach abgeschlossener Analyse von Marktforschern, durch diskutiert mit Spin doctors und geprobt mit Trainern, kein Platz mehr sei für Spontaneität und Improvisation. Damit erreiche man aber doch nur eine Künstlichkeit, die der Authentizität im Weg stehe und Glaubwürdigkeit erschwere.

«Was Martin Luther King mit ‹I Have a Dream› gemacht hat, ist rhetorisch das Höchste». Am Ziel rhetorischer Ausbildung habe sich deshalb auch bis heute nichts geändert, sagt Daniel Perrin - und das sei: «zu sich zu stehen und zu wissen, worum es einem geht. Dann fallen einem die Worte zu.»

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