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Mode – geliebter Terror (Perspektiven, 28.3.1974)
Aus Kultur Extras vom 10.02.2016.
abspielen. Laufzeit 15 Minuten 27 Sekunden.
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Der Archivar Wir tragen keine Mode, unser Körper ist Mode geworden

28. März 1974. Die Sendung «Perspektiven» fragt nach dem Verhältnis von Mensch und Mode. Zu dieser Zeit diskutiert man Mode kritisch: Als Verpackung in der Wegwerf-Gesellschaft. Heute stehen wir woanders: Nicht das, was der Körper trägt, ist Mode – der Körper an sich ist zum Modeprodukt geworden.

Archivperlen

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Das Archiv von SRF ist ein fulminanter Fundus, ein audiovisuelles Gedächtnis, in Schwarz-weiss oder Farbe, analog oder digital. Wichtiges und Unwichtiges, Überholtes und allzeit Gültiges, Alltag und grosse Weltgeschichte.

Im Player von SRF sind eine Vielzahl von «Perlen», die Ihnen online zugänglich sind sowie im Archivkanal auf Youtube.

1974 fragt die Sendung «Perspektiven» ganz grundsätzlich: Wie verhält es sich mit dem Menschen an sich und der Mode? Ein Beitrag aus dem Zeitgeist des aufkommenden ökologischen Bewusstseins. Aus diesem Geist ist von «Wegwerf-Fetischismus« die Rede. Die Modeindustrie manipuliere und wecke Bedürfnisse: Kritische Töne am saisonal verordneten Kommerz.

Mode sei auch der Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen. Die Jeans – ehemals der Fetzen des Anti-Establishments – werde jetzt, 1974, auch vom Establishment selbst getragen. Die Jeans gerate zur leeren Revoluzzergeste Besserverdienender. Grosso Modo kann man 1974 sagen: Kleidung ist Ausdruck von Stand, Kultur, Generation. Väter sind anders gekleidet als Söhne.

Und heute?

Der vielzitierte Jugendwahn lässt heute Mittfünfziger wie Mittzwanziger aussehen. Wenn nur die Kilos nicht wären: Silver Hipsters. Die Looks breiten sich quer durch die Generationen aus: jede Generation hat ihre eigenen Sneakers. Kleidung definiert heute weniger, zu welcher Generation man gehört, als zu welcher man auf keinen Fall gehören will.

Anstrengung, die man nicht sehen darf

Kann man 1974 noch mit einiger Sicherheit von der Kleidung auf den Stand schliessen, ist das heute schwieriger: Heute drängen sich betuchte Damen mit klammen Teenagern an den Sale-Tischen von «Jungs & Mädels». Stil ist nicht mehr alleine eine Frage des Geldbeutels. Locker ist gefragt. Man darf bloss nicht aussehen, als käme man gerade vom Coiffeur. Es muss mühelos aussehen und perfekt sitzen. Mode ist Anstrengung, die man nicht sehen darf.

«Little-Miss-Füdlispalt»

Mode will immer auch individuelle Ausnahme sein. Und weil sich das heute kaum noch realisieren lässt, wird kombiniert, was das Zeug hält. Wir kombinieren Uniformes, um individuell zu sein: Teuer und billig, festlich und salopp, letztes Jahr und dieses Jahr, retro ist ein anderes Wort für «neues Altes». Wir mischen Codes, die früher nicht zusammen gingen: Sneakers zu Deux-Pièces, Boots zu Anzügen.

Junge Frau mit String aus Hose neben Laptop mit Algebra Aufgaben
Legende: Ein Schnitt für alle. Keystone

Da ist dann aber auch Schluss. Versuchen Sie mal einen Schnitt zu kriegen, der gerade nicht en vogue ist. Eine Geschichte aus dem Leben: Eine Mutter versucht für ihre Tochter eine Hose zu kaufen, «die nicht drei Meter unter dem Bauchnabel endet.»

Die Verkäuferin schnappt nach Luft: «Das giit's nöd» und fragt, wieso sie das wolle? Die Mutter antwortet, weil sie keine «Little-Miss-Füdlispalt» wolle. Zu einem Kauf kommt es nicht.

Mode ist Statement

Buchhinweise

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  • Roland Barthes: «Die Sprache der Mode», Frankfurt a. M. 1985
  • Michel Foucault: «Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II.», Frankfurt a. M. 2006
  • Giorgio Agamben: «Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben», Frankfurt a. M. 2002

Was sich in den vergangenen 40 Jahren radikal verändert hat, ist nicht (nur) die Mode, sondern ihr Symbolgehalt. Mode ist heute ethisch aufgeladen. Mode ist Statement für Werte wie fair trade, für angemessene Arbeitsbedingungen, gegen Kinderarbeit. Ob das leere Attitüde oder gelebte Haltung ist, darüber streiten sich noch die Geister: Denn zu einem geänderten Kaufverhalten kommt es noch nicht flächendeckend. Eines allerdings ist klar: Pelz geht gar nicht.

Pimp Your Body!

Grösse Null gibt's. Das ist kurz vor der künstlichen Ernährung. Das heisst um die Jahrtausendwende noch «Heroin Chic». Es gibt heute Body-Mass-Indexe: Wir trainieren den Körper zur Mode. Der Körper muss passen, nicht die Mode. Der Körper wird inszeniert: Gepeeltes vorne, Gewaxtes hinten, Gezupftes hier, Gebräuntes dort.

Lady Gaga in einem Kleid aus rohem Rindfleisch
Legende: Ein Kleid als politisches Statement. Keystone

Das Tattoo ist 1974 noch ein klarer Code und für Viele ein No-Go. Heute tragen es auch höher gestellte Gattinnen: Der Körper wird beschrieben. Im buchstäblichen Sinn. Der ursprüngliche Code ist nur noch Zitat. Wir sampeln Codes.

Durch Mark und Bein geht der «Meat Dress», den Lady Gaga 2010 zur Verleihung der MTV-Awards trägt. Sie sagt darüber in der Talk Show von Ellen DeGeneres, wenn man nicht kämpfe für das, woran man glaube, dann habe man bald nicht mehr Rechte, als das nackte Fleisch an den Knochen.

Dieser Dress ist ein politisches Statement und Metapher: Wir tragen heute keine Mode, wir sind Mode. Unser Körper ist Mode. Das nackte Fleisch ist in der Postmoderne angekommen.

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