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Kinderfreundliche Gemeinde Wo sich der Gemeinderat von Kindern beraten lässt

Im luzernischen Wauwil werden Kinder in die Gemeindepolitik einbezogen. Der Ort tut viel dafür, das Unicef-Label «kinderfreundliche Gemeinde» tragen zu können.

Es ist kalt auf dem Pausenplatz des Schulzentrums «Linde» im luzernischen Wauwil. Trotzdem ist an diesem Wintermorgen in der 10-Uhr-Pause viel Betrieb. Der Lärm der Kinder vermischt sich mit dem des Verkehrs auf der nahe gelegenen Kantonsstrasse, die das Dorf zweiteilt.

Die ehemalige Gemeindepräsidentin Vreni Gassmann zeigt auf einen Container auf Rädern, die «Spielhummel»: «Darin hat es viele Spielsachen, die sich die Schülerinnen und Schüler in der Pause holen dürfen.» Die Kinder seien selbst dafür verantwortlich, die Sachen wieder zurückzubringen, sagt Gassmann. «Kinderfreundlichkeit heisst nicht ‹Ihr könnt alles haben›, sondern ‹Ihr müsst mittragen›.»

Kinder klettern in einem rundenBaumhaus
Legende: Den Spielplatz haben die Wauwiler Kinder selbst entworfen. Schule Wauwil / Rita Affentranger

Kinder gestalten den Pausenplatz selbst

Kinder sollen Wünsche anbringen, Ideen entwickeln und mitbestimmen, aber auch Verantwortung übernehmen – das war auch bei der Erweiterung der Schulanlage vor fünf Jahren der Leitsatz. Kinder und Jugendliche konnten damals bei der Neugestaltung im Detail mitreden.

Nun stehen auf dem Pausenhof ein Baumhaus, eine schattige Laube und eine Kletteranlage aus Holz, im Schulhaus gibt es bunt bemalte Wände. Auf der Website der Schule zeigt ein Video diesen Prozess der kreativen Beteiligung.

«Ich finde es gut, dass wir mitbestimmen können, welche Farbe wir gerne hätten», sagt Sekundarschülerin Samira im Video. Sie habe es geschätzt, dass die Schülerinnen und Schüler gemeinsam abstimmen konnten, damit es keine Komplikationen gebe. «Wir haben uns mega ernst genommen gefühlt», sagt Daina.

Beteiligung ist ein Kinderrecht

Das Video zeigt, wie Kinder ihre Ideen zusammentrugen, bildlich umsetzten, Modelle bauten und gemeinsam über die Gestaltung entschieden. Schliesslich legten sie an einem gemeinsamen Arbeitstag mit Handwerkern, Eltern und Lehrpersonen auf der Baustelle selbst Hand an.

EInjunge malt ein Emoji an eine gelbe Wand
Legende: Die Gestaltung der WCs im Schulhaus wurden gemeinschaftlich vorgenommen. Schule Wauwil / Rita Affentranger

Wauwil bemüht sich seit rund 20 Jahren, die junge Generation in Angelegenheiten einzubeziehen, die sie betreffen. Dies tun auch andere Gemeinden in der Schweiz. Sie folgen damit der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989, die von der Schweiz 1997 ratifiziert worden ist.

Wann ist eine Gemeinde kinderfreundlich?

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Unicef vergibt das Label «kinderfreundliche Gemeinde» an Orte, in denen Kinder bei der Gestaltung ihrer Lebensräume mitreden können. Solche Gemeinden bekennen sich zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention und entwickeln institutionalisierte Gefässe der Kinder- und Jugendmitwirkung wie Kinderräte, Jugendparlamente oder einen regelmässigen Austausch zwischen Schülerinnen und Schülern und dem Gemeinderat. Auch beziehen «Kinderfreundliche Gemeinden» Kinder und Jugendliche verstärkt in Projekte und Prozesse aus der Raumplanung und -entwicklung ein.

Um das Label zu erhalten muss eine Gemeinde Workshops veranstalten und einen Aktionsplan formulieren. Danach wird sie vor Ort evaluiert.

«Kindefreundlichkeit sollte selbstverständlich sein»

Die Schule ist für die Partizipation ein zentraler Ort, weil Kinder und Jugendliche hier viel Zeit verbringen. Hier habe das Engagement von Wauwil denn auch angefangen, sagt Vreni Gassmann. Sie war von 2004 bis 2013 im Gemeinderat, zwei Jahre davon auch als Gemeindepräsidentin. In dieser Zeit befasste sie sich mit dem Schulwesen.

Ein fortschrittlicher Schulleiter habe damals den Anstoss dazu gegeben, Kinder und Jugendliche vermehrt einzubeziehen. Das sei auch ihr wichtig gewesen: «Kinderfreundlichkeit ist kein Produkt, das man erfinden muss, sondern soll selbstverständlich sein.»

Wauwil hat die Mitsprache der jungen Generation ein Stück weit institutionalisiert. Es gibt mehrere Klassenräte, abgestuft nach Alter. Diese halten Vollversammlungen ab, wenn ihre Meinung gefragt ist. In einem Briefkasten können Wünsche deponiert werden. Zudem gibt es ein Jugendparlament, das in einem Verein organisiert ist und ein Budget von 2000 Franken pro Jahr zur Verfügung hat.

Kinder sitzen in einer Turnhalle
Legende: Die Schule als partizipativer Ort: Vollversammlung der Schule Wauwil im März 2017. Schule Wauwil / Rita Affentranger

Anderer Blick auf die Verkehrsplanung

Diese Gremien konsultiert der Gemeinderat nicht nur für Schulthemen, sondern auch bei allgemeinen kommunalen Geschäften. So wurden Kinder und Jugendliche vor Kurzem zum neuen Siedlungsleitbild befragt, das die bauliche Entwicklung des Dorfes in den nächsten Jahren skizziert.

Was bei der jüngsten Befragung herauskam, hat den heutigen Gemeindepräsident Ivo Kreienbühl überrascht: «Es ist erstaunlich, dass sie zum Beispiel den Verkehr zum Thema machten.» Die Kinder und Jugendlichen hätten die Stellen benannt, an denen die Überquerung der Kantonsstrasse zum Schulhaus hin schwierig ist, oder an denen der Verkehr nicht klar geregelt ist. «Da gibt es jetzt Verbesserungen», sagt Kreienbühl.

Kinder arbeiten mit Schaufeln
Legende: In Wauwil sollen Kinder auch Verantwortung übernehmen und selbst Hand anlegen. Schule Wauwil / Rita Affentranger

Befragungen zu kommunalen Vorhaben sind aber noch keine umfassende Beteiligung. Es geht auch darum, Kinder und Jugendliche bei der Umsetzung systematisch einzubeziehen. Dazu gibt es den Planungsleitfaden «Auf Augenhöhen 1.20m».

Veränderte Haltung

Durch das 20-jährige Engagement der Gemeinde habe sich die Haltung der Erwachsenen in Schule und Behörden zu Kindern und Jugendlichen verändert, sagt die heute pensionierte Vreni Gassmann.

Sie habe selbst auch dazulernen müssen, sagt die ehemalige Gemeindepräsidentin, die in einer Bauernfamilie aufgewachsen ist: «Ich musste lernen, dass es heute anders ist als zu meiner Zeit. Wir leben heute in einer anderen Gesellschaft.».

Sie selbst habe immer gehorchen müssen und habe sich zum Beispiel nicht getraut, sich zuhause über einen Lehrer zu beschweren. «Das ist heute anders: Kinder können zu Hause mit den Eltern viel besser reden.»

Kinder spielen in einem Park
Legende: Verändertes Denken: Kinder sollen ihre Umgebung zusammen mit den Erwachsenen gestalten – wie hier bei einem Projekt der Fachstelle SpielRaum in Steffisburg. spielraum.ch

Konflikte zwischen verschiedenen Interessen

Eine offene Haltung gegenüber den Anliegen von Kindern und Jugendlichen und ihre institutionalisierte Beteiligung sind nicht selbstverständlich. Bei einer kinderfreundlichen Raumplanung zum Beispiel kommt es oft zu Nutzungskonflikten: Grosszügige Freiflächen, die sich gut zum Spielen eignen, rentieren nicht. Baumhütten oder ein Hüttendorf im Innenhof einer Wohnsiedlung bringen Lärm mit sich. Wohnstrassen behindern den Verkehr.

Oft müssen Raumplaner und Architektinnen verschiedene Interessen unter einen Hut bringen. Mit solchen Konflikten befasst sich die Fachstelle SpielRaum in Bern und Zürich. Sie gestaltet seit 30 Jahren zusammen mit Kindern Aussenräume in der ganzen Deutschschweiz.

Über die idealen Eigenschaften solcher Räume besteht heute weitgehend Einigkeit: Sie sollen sich dort befinden, wo die Kinder wohnen. Und sie sollen sicher und leicht erreichbar sein. Das Nationale Forschungsprogramm «Stadt und Verkehr» hat bereits 1995 nachgewiesen, dass das Wohnumfeld für die kindliche Entwicklung sehr wichtig ist.

Kreativität und Abwechslung

Gabriela Muri befasst sich seit über 30 Jahren mit der Entwicklung von Räumen für Familien, Kinder und Jugendliche. Sie ist Projektleiterin am Institut für Kindheit, Jugend und Familie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Sie geht von der Prämisse aus, dass Räume «Sozialräume» sind und Kinder aus prekären Verhältnissen oft in Quartieren und Wohnblocks leben, die wenig attraktive Aussenräume bieten. Oft könnten sie besser gestaltet werden zum Beispiel mit leicht unterscheidbaren Eingängen und Türen, die Kinder selbst öffnen können.

Kinderfreundliche Aussenräume sollen die Kreativität anregen. Idealerweise sind sie abwechslungsreich angelegt, etwa mit einem hügeligen Gelände, mit Mulden und Wasserstellen. Es sei wichtig, dass sich Kinder ein solches Areal selbst aneignen und diesen Aussenraum selbst gestalten können, sagt auch Anne Wegmüller, Leiterin der Fachstelle SpielRaum. Kinder sollen sich verstecken, sich begegnen und vor allem frei bewegen können.

Bewegung ist ein besonders wichtiges Stichwort: Kinder und Jugendliche haben sich vor 50 Jahren im Schnitt pro Tag über drei Stunden draussen bewegt. Heute sind es gerade noch 47 Minuten, wie eine Umfrage der Stiftung Pro Juventute von 2016 ausweist.

Auf Kinderaugenhöhe

Um die Bedürfnisse und Vorschläge von Kindern aufzunehmen, führt die Fachstelle SpielRaum Begehungen durch, begibt sich mit ihnen buchstäblich auf ihrer Augenhöhe durchs Quartier. Darauf setzt sie die Ideen mit Collagen oder Modellbauten um.

Kinder gehen nebeneinander auf einem Weg
Legende: Bei neuen Projekten erfragt SpielRaum bei Kindern und Erwachsenen die Bedürfnisse. Daraus entsteht dass ein erstes Modell. spielraum.ch

Eine solche Beteiligung ist ein aufwändiger Prozess, der viel Aufmerksamkeit und Zeit beansprucht – keine leichte Aufgabe für Frauen und Männer in einer kommunalen Exekutive, die viele komplexe Geschäfte zu bewältigen haben, und das oft nur im Nebenamt – neben Beruf und Familie.

Kinderfreundliche Dörfer und Städte in der Schweiz

Damit dem Anspruch der UN-Kinderrechtskonvention vermehrt Taten folgen, vergibt Unicef Auszeichnungen an Gemeinden, die sich umfassend um die Partizipation der jüngsten Generation bemühen. In der Schweiz sind bisher 50 Dörfer und Städte mit dem internationalen Label «Kinderfreundliche Gemeinde» prämiert worden.

Die erste Auszeichnung fiel 2009 Wauwil im Kanton Luzern zu. Diese Gemeinde hat auch die Rezertifizierung erfolgreich bestanden und hält ihren Titel bis heute.

Um die Auszeichnung zu behalten, muss eine Gemeinde ein ganzes Paket von Massnahmen vorlegen. Dazu gehören zum Beispiel Sportplätze, Jugendtreffpunkte und Freizeitangebote: So gab es in Wauwil 2010 ein Kinderkino, zurzeit ist ein Kinderzirkus geplant.

Pädagogische Ansprüche

Zum Katalog der Angebote gehören neben Veranstaltungen zur Elternbildung wie «Stark durch Erziehung» auch zahlreiche Präventionsprogramme für Jugendliche: «Schlau statt blau», «Flimmerpause» und «klick safe».

Kinder mit Bauhelmen legen Steine
Legende: Um als «kinderfreundlich» zertifiziert zu werden, muss eine Gemeinde Kinder teilhaben lassen, ohne dass dabei andere Ziele verfolgt werden. Schule Wauwil / Rita Affentranger

Unter dem Stichwort «kinderfreundlich» werden damit auch pädagogische Programme gefasst, die den Gestaltungswillen und die Experimentierfreudigkeit von Kindern und Jugendlichen problematisieren und ihnen Grenzen setzen.

Damit geht es bei den Massnahmen, die das Unicef-Label vorsieht, nicht nur um die Interessen von Kindern und Jugendlichen, sondern auch um jene von Eltern, Lehrern und Gemeinderätinnen. Da kann es schon einmal zu Kollisionen kommen.

Partizipation als Mittel zum Zweck?

Beim einen oder anderen Projekt fragt sich deshalb, wie ernst der Anspruch auf Partizipation genommen wird. Etwa, wenn es um die Gestaltung des kommunalen Raums geht, sagt Gabriela Muri.

Muri befasst sich seit über 30 Jahren mit solchen Fragen und berät in einer unabhängigen Kommission die Unicef bei der Vergabe der Auszeichnung «Kinderfreundliche Gemeinde»: «Wir erleben bei der Beantragung des Labels oft, dass zwar Partizipationsformen angeboten werden, dass diese aber gleichzeitig dazu benutzt werden, um Konflikte zu regulieren, also präventiv wirken.»

Ein Beispiel dafür sind Graffiti oder Littering: «Ich finde auch, dass alle ihren Abfall selbst entsorgen sollen – aber ein gewisses Chaos oder eine gewisse Anarchie ist typisch für die Aneignung von Räumen von Kindern und Jugendlichen.»

In diesem Dilemma stecke oft auch die kommunale Politik. Wenn die Behörde zum Beispiel Jugendliche eine Bahnhofsunterführung bloss deshalb gestalten lässt, weil sie hofft, so Graffiti verhindern zu können.

Begeisterung für politisches Engagement wecken

Wann ist die Partizipation echt? Wer verfolgt in welchem «kinderfreundlichen» Programm welche Interessen? Wünschbar wäre, dass dies bei jedem Projekt offengelegt und diskutiert wird. Diesen Aufwand kann sich allerdings nicht jede Gemeinde leisten.

Die Zertifizierung als «Kinderfreundliche Gemeinde» sei ein langer und anspruchsvoller Prozess und binde Kräfte, räumt die ehemalige Gemeindepräsidentin von Wauwil, Vreni Gassmann, ein.

Langfristig könnten sich solche Auseinandersetzungen, etwa mit einem Jugendparlament, aber lohnen: «Gerade das Jugendparlament könnte junge Leute dazu animieren, sich einmal in einem Gemeinderat oder einem Kantonsrat politisch zu engagieren. Das wäre eigentlich das Ziel.»

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 10.3.2022, 08:06 Uhr.

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