Das Wichtigste in Kürze
- Die Lomografie, eine künstlerische Praxis aus den späten 1980er-Jahren, hat sich der experimentellen Schnappschussfotografie verschrieben.
- Vor genau 25 Jahren stellte eine österreichische Künstlergruppe 10 goldene Regeln der Lomografie auf – einen Leitfaden für das Fotografieren mit der Lomo-Kamera.
- Die Ästhetik der Lomografie findet sich heute auf der Foto-App Instagram.
Das Zufallsprinzip
Sie waren verwackelt, verschwommen und seltsam: die Bilder der Lomo-Kompaktkamera. Einige liebten, andere belächelten die Fotos. In den traditionellen Fotolabors hielt man sie für misslungen. Und strich sie mit einem schwarzen Filzstift durch.
Die Lomografen selbst waren anderer Meinung. Ihre lichtstarken, unscharfen Schnappschüsse zeigten das, was sie suchten. Das Spontane. Das Überraschende.
Denn Lomografieren hiess Knipsen, ohne durch den Sucher zu blicken. Der Zufall wurde von den Lomografen zum Prinzip erhoben – und mit einer Foto-Bewegung gefeiert. Das war vor 25 Jahren.
Vergiss die Regeln!
Die analoge Lomo-Kamera gibt es aber schon seit 1984. Sie war eine sowjetische Billigproduktion, die wegen ihrer rudimentären Qualität lange unbedeutend blieb.
Gefragt war die Lomo erst in den 1990er-Jahren, als die digitale Fotografie aufkam. Ein Clash der Kulturen: unüberlegtes versus kontrolliertes Fotografieren. Nostalgie versus Innovation.
«Nimm Deine Lomo-Kamera überallhin mit. Verwende sie Tag und Nacht. Sei schnell. Denk nicht nach.» Das sind nur einige der « zehn goldenen Regeln der Lomografie », die damals von einer österreichischen Lomo-Gruppe aufgestellt wurden.
Ernst nehmen musste man sie nicht. Denn die letzte stellte sie alle infrage: «Vergiss die Regeln.» Die Lomografie war eine Kampfansage an alles, was der Fotografie zu viel Ernsthaftigkeit verlieh. Sie sollte Spass machen – und jeder sollte mitmachen.
Früher Lomo, heute iPhone
Freunde, Fotos, Vergnügen? Das geht im digitalen Zeitalter noch immer – auf Instagram etwa. In der Foto-App wird der Bilderflut der Lomo-Look noch heute oft per Retro-Filter verpasst. Er deutet eine Sehnsucht nach analogen Bildern an. Waren die Lomografen die Vorläufer der heutigen Online-Fotografen?
«Wir hatten den Gemeinschaftsgedanken, der ist sehr ähnlich bei Instagram», sagt Daniel Zihlmann. «Lomografie war in dieser Hinsicht Social Media 1.0.»
Zihlmann ist ein Schweizer Lomograf der ersten Stunde. In den 1990er-Jahren knipste und kuratierte er, was das Zeug hielt. Heute arbeitet er als Fotograf.
In seiner Hosentasche trägt er sein Smartphone, damals trug er darin seine kleine Lomo-Kamera. Sie legte den Grundstein für das Fotografieren an neuen Orten.
«Wir fingen an, im Alltag zu lomografieren; bei der Arbeit, beim Sport, beim Konzert», erzählt Zihlmann. «Mit grossen Spiegelreflexkameras war das nicht üblich.»
Schnell gemacht, schnell gesehen
Doch nicht nur das Mitten-im-Geschehen- und Nebenbei-Fotografieren haben die Lomografen den heutigen Instagram-User vorweggenommen. Sie haben auch Selfies gemacht.
«Den Begriff gab es damals zwar noch nicht», sagt Zihlmann. «Aber die Kamera hat Selfies begünstigt: Sie ist leicht, hat ein Weitwinkelobjektiv und der Fokus liess sich einstellen.»
Auf Instagram werden Selfies heute nicht nur geschossen, sie werden auch verbreitet. Das geht inzwischen so schnell wie auf den Auslöser zu drücken. Die Unmittelbarkeit der Bilder hat die Foto-App um eine weitere zeitliche Komponente ergänzt: Bilder werden nicht nur schnell gemacht, sie werden auch schnell gesehen.
Spass am unkontrollierten Spiel
Die Lomografen hatten es da schwieriger. «Man hat die Fotos herumgezeigt oder zusammen mit anderen eine Ausstellung organisiert», sagt Zihlmann. Ohnehin mussten die Lomografen mehr Geduld haben. Einen Film füllen und entwickeln lassen – das dauerte.
Im Labor wartete dafür eine Überraschung. Erst hier sah man, wie die lichtstarke Kamera das Licht eingefangen hatte. Das Experimentieren war ein wichtiger Teil dieses unkontrollierten Spiels, bei dem weder von anderen kopiert noch eigene Bilder überprüft werden konnten.
Und heute? Auf Instagram häufen sich bearbeitete, inszenierte Bilder. «Wenn's nicht gut ist, wird's nochmal gemacht», sagt Zihlmann. «Die Leute können es kontrollieren, und wollen das auch. Schliesslich ist es eine Darstellung von sich selbst. Bei der Lomografie war das nicht der Fall.»
Spontan, aber nur kurz
Was diese Kontrolle auslöst, zeigen viele Instagram-Feeds: Wenig Spontaneität, viel Retusche und eine einheitliche Bildästhetik.
Anders bei der Lomografie: Durch die Einschränkungen der Kamera blieb der Grundgedanke der Lomografen erhalten. Der kleine Knipser wahrte den Spass, den Gemeinschaftsgedanken und liess den Kontrollwahn weg. Nach zur Schau gestellter Virtuosität suchte man bei den Lomografen ebenso vergeblich wie nach Makellosem.
Auf Instagram zeigt sich zwar auch eine Lust auf mehr Spontaneität. Aber nur, wenn sie mit einem Verfallsdatum daherkommt. Mit der Story-Funktion der App werden Bilder geteilt, die nur 24 Stunden online sind – danach sind sie gelöscht.
Bilder heute leben von ihrer Aktualität, bekommen aber eine grössere Aufmerksamkeit, wenn sie kurzlebig sind. Denn gerade wegen ihrer Flüchtigkeit werden sie wachsamer konsumiert.
Die Lust an der Vergänglichkeit
Wenn die nostalgische Sehnsucht der Lomografen das Rudimentäre war, ist es für die Online-Bildermacher die Vergänglichkeit – im Internet, das nie vergisst.
Mit der 24-Stunden-Story-Funktion läuft Instagram der Lomo den Rang ab. Denn hier wird die App verspielt, verschwommen, unmittelbar, dokumentarisch, schnell und weniger kontrolliert. Alles Eigenschaften, die die Lomografie auch angestrebt hätte, wäre die Technik dazu dagewesen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 09.11.17, 17:22 Uhr