Ein Ferienschnappschuss, das gerahmte Hochzeitsfoto, ein Maskenselfie: Die Fotografie ist heute massentauglich.
Nicht so im 19. Jahrhundert: Die Fotostiftung Schweiz zeigt in Winterthur 400 Fotografien, die von den Pionieren der damals bahnbrechend neuen Technik geknipst wurden. Die Schweizer Pioniere liessen zwar auf sich warten – dafür zeigten sich die Behörden avantgardistisch bei den Fahndungsfotos.
Walliser Wassermassen vor der französischen Linse
Mit gewaltigem Tosen brechen Wassermassen über Felsen in die Tiefe, spucken Gischt, rauschen gurgelnd ins Tal. Gebannt sieht ein Mann dem Spektakel zu. Die schwarzweisse Fotografie von 1864 zeigt die Pissevache, einen berühmten Wasserfall im Wallis. Geschickt nutzte der Fotograf lange Belichtungszeit und Komposition, um das Auge direkt ins Geschehen hineinzuführen.
Ein Bild einer klassischen Schweizer Naturschönheit. Doch hinter der Linse stand kein Schweizer Fotograf – sondern der Franzose Adolf Braun.
Die Schweizer Fotografie boomt verspätet
25 Jahre nach der Erfindung der Fotografie scheinen die Schweizer noch etwas verschlafen: «Die Fotografie in der Schweiz hat sich ein bisschen langsamer entwickelt als im Ausland, wie zum Beispiel in Frankreich oder in England», sagt Martin Gasser. Zusammen mit Sylvie Henguely kuratierte er die Fotoausstellung «Nach der Natur». «Der richtige Boom, der setzt eigentlich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein.»
Die Ausstellung zeigt eindrücklich, wie die Bilder verbreitet wurden, welche wissenschaftliche, künstlerische und wirtschaftliche Bedeutung das junge Medium in der Schweiz mit leichter Verspätung erlangte. Bis dann Fotografie-Grössen wie Werner Bischoff oder Gotthard Schuh die Schweizer Reportage-Fotografie über die Grenzen des Landes hinaus bekannt machten.
Vom Brückenpfeiler bis zum Fahndungsfoto
Doch was wurde im 19. Jahrhundert in der Schweiz überhaupt abgelichtet? Nicht nur die Wunder der Natur, für die sich vor allem die ausländischen Touristen interessierten. Sondern auch, was neu und deshalb interessant schien: Städte, Brücken, Eisenbahnlinien oder Maschinen.
Das mit Abstand häufigste Motiv der Fotografie aber war – ganz wie heute noch in Zeiten von Facebook und Instagram – der Mensch: bei der Arbeit, beim Feiern, vor prachtvoller Kulisse.
Genau da, in einem besonderen Bereich der Portraitfotografie, war die Schweiz auch ein bisschen Avantgarde: bei der Fahndungsfotografie. «Nach der Staatsgründung 1848 hatten die Bundesbehörden und die kantonalen Behörden das Bedürfnis, Migranten, Heimatlose zu kontrollieren. Die Fotografie spielte als Identifikationsmittel eine grosse Rolle.»
So kann man in Winterthur auch jene Schweizerinnen und Schweizer betrachten, die sich nicht ganz freiwillig haben fotografieren lassen. Die Ausstellung offenbart tiefe Einblicke in ein Land, das so arm und so wild war, wie wir es uns heute kaum mehr vorstellen können.