Shelley McNamara und Yvonne Farrell sind zwei beseelte Architektinnen aus Irland. Aktuell sind sie verantwortlich für die grösste internationale Leistungsschau der Architektur, der Architekturbiennale in Venedig.
Als Kuratorinnen haben sie dieses Jahr «Freespace» – Freiraum – als Motto gesetzt. Freiraum ist für das Duo ein Teil des Lebens, der immer wichtiger wird, vor allem weil immer mehr Menschen auf immer engerem Raum leben. Im Interview sprechen sie über den Umgang damit und darüber, was Architektur für das Zusammenleben der Menschen bewirken kann.
SRF: «Freespace» haben Sie als Motto gesetzt. Wo sehen Sie die grösste Dringlichkeit für Freiräume?
Yvonne Farrell: Seit 2008 lebt die Hälfte der Menschen weltweit in Städten. In den nächsten 30 Jahren werden es bis zu zwei Drittel sein. Lebensqualität beruht auf guter Architektur: Den Freiraum zu finden, ist dabei wie die Suche nach dem goldenen Faden im Strang. Architektur kann die Gesellschaft beschenken.
Eine hehre Aufgabe. Was braucht es, damit dies gelingt?
Shelley McNamara: Wir haben 25 Jahre in Irland gebaut, bevor wir die Gelegenheit bekamen, im Ausland Projekte auszuführen. Dabei haben wir unsere besonderen Fähigkeiten erkannt: den jeweiligen Ort genau anzuschauen und das, was wir dort finden, in etwas zu übersetzen, das genau dorthin passt.
Wie haben Sie das in Venedig konkret umgesetzt?
Yvonne Farrell: Wir sind ja gewöhnlich keine Kuratorinnen, sondern Architektinnen. So hat uns beispielsweise hier im Arsenale (Anm. d. Red.: Schiffswerk in Venedig) sofort der Charakter dieses grossartigen Gebäudes angesprochen. Wir liessen alle temporären Wände und die Fensterabdeckungen entfernen. So kann dieser unglaubliche, zweihundert Meter lange Raum erst richtig wirken.
Architektur soll fühlbar, ertastbar sein.
Shelley McNamara: Im Arsenale wurden einst Seile hergestellt. Er diente aber auch als Schauort der grossen Macht und der Fertigkeiten Venedigs im Schiffbau und der Seefahrt. Dieses Schauelement nehmen wir wieder auf und verbinden den historischen Raum und seine tollen Backsteinsäulen mit den ausgestellten Projekten.
Yvonne Farrell: Architektur soll auch fühlbar, ertastbar sein. So haben wir am Eingang diesen grossen Vorhang aus Seilen angebracht. Wir wollen die Besucher daran erinnern, dass sie lebendige Wesen sind, mit empfindsamer Haut. Sie spüren die Wärme draussen und kommen in diesen angenehm kühlen Raum, treffen auf andere Menschen, befreunden sich vielleicht oder treffen Bekannte.
Wir wollten Arbeiten finden, die unsere Werte verkörpern: Grosszügigkeit, Offenheit, Gemeinschaft.
Wie sind Sie bei der Auswahl der Arbeiten vorgegangen?
Shelley McNamara: Zuerst ging es uns darum, Arbeiten zu finden, die unsere Werte verkörpern: Grosszügigkeit, Offenheit, Gemeinschaft. Architektur, die einen Rahmen für das Leben gibt, die das Handwerk hochhält und Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet.
Ein Projekt steht hier neben dem andern, ohne thematische Gliederung – ein bewusster Entscheid für die Vielfalt?
Shelley McNamara: Ursprünglich hatten wir die Räume nach Themen aufgeteilt. Dann aber erkannten wir, dass gewisse Projekte all diese Themen abdecken. So ergab sich eine organische Anordnung, etwa wie das Platzieren der Gäste an einem Esstisch. Man schaut, wer zu wem passen könnte.
Yvonne Farrell: Wir wollten den Menschen zeigen, dass Architektur eine riesige Spannweite hat: vom Grundlegenden, wie dem handgefertigten Fliesenboden, bis zu Wohnhausbauten und grossen Infrastrukturprojekten.
Architektur hat eine wichtige soziale Komponente.
Wir wollen die Architektur hier feiern. Es ist eine optimistische Disziplin, häufig schwierig, aber lohnend. Und es geht nicht nur ums Bauen. Architektur hat auch eine wichtige soziale Komponente.
Sie haben viele grosse Schweizer Architekten eingeladen: Valerio Olgiati, Peter Zumthor, Mario Botta. Was verbindet Sie mit der Schweiz?
Yvonne Farrell: In den 1970er-Jahren kamen wir in die Schweiz und sahen eine Ausstellung über die Tessiner Architektur. Wir luden darauf Mario Botta nach Dublin ein, wo er vor vollem Haus über die Wirkung von Architektur auf eine spezifische Umgebung sprach.
Shelley McNamara: Die Arbeiten der Schweizer waren eng verbunden mit ihrer eigenen Kultur, mit dem Ort. Das hat uns als junge Architektinnen stark beeinflusst. Es ermutigte uns, auf unsere eigene Umgebung zu schauen und eine neue Architektur zu schaffen, die darauf aufbaut.
Das Gespräch führte Richard Herold.