Eine kleine Ausstellung mit relativ grossem Medienecho: Mehrere Schweizer Zeitungen titelten in den letzten Tagen über die Ausstellung «Lesende Mädchen» zu Albert Anker am Kunstmuseum Bern. «Streit um Albert Anker. Malte der Nationalkünstler die heile Welt oder war er ein visionärer Frauenförderer?»
Viele Anker-Fans sehen die Bilder als Darstellungen einer heilen Welt. Kuratorin Kathleen Bühler sieht das anders. Für sie sind die Bilder sehr modern für ihre Zeit. In Anker sieht sie einen engagierten Befürworter der Bildung für alle – auch für Mädchen.
Sie freut sich, dass die Ausstellung diskutiert wird: «Jedes Mal, wenn wir es schaffen, dass Kunst diskutiert wird und die Frage gestellt wird ‹Was hat das mit mir zu tun?›, finde ich das toll. Dann lebt die Kunst und wir haben unsere Arbeit richtig gemacht.»
Leitmotiv: Lesende Kinder
Bühler hat eine Gruppe Bilder zusammengestellt, die lesende Mädchen zeigen oder Mädchen in der Schule. Auf manchen Bildern sieht man auch strickende Mädchen und Mädchen mit einem Laib Brot im Arm.
Aber immer ist auf den Bildern auch ein Buch oder ein Schreibheft zu sehen. Die Kuratorin betont, dass Anker dieses Motiv der lesenden Mädchen oft gemalt habe.
«Ich denke, es hat auch einen ganz praktischen Grund, dass Kinder ruhig halten, wenn sie lesen», so Bühler. Der Künstler hat nach dem lebenden Modell gearbeitet, die Kinder mussten also stundenlang still sitzen.
Bühler sieht noch andere Gründe für Albert Ankers Motivwahl «Mädchen mit Buch»: «Er war auch politisch tätig: Er war in Ins am Bielersee in der Schulkommission und war auch mitverantwortlich für die Einführung der Sekundarschule in der Gemeinde.»
Mädchen malen – und so die Erleuchtung bringen?
Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in der Schweiz 1874: Das war ein grosses Thema für Anker und seine Zeitgenossen. Lange wurde darum gerungen, für wen diese Schulpflicht gelten sollte. Mussten auch Mädchen lesen, schreiben und rechnen können, genauso wie die Knaben? Sollte man sie früher aus der Schule entlassen, damit sie daheim im Haushalt helfen konnten?
Kathleen Bühler ist überzeugt, dass sich Anker bei diesen Diskussionen für die Bildung der Mädchen einsetzte. Auf einem Gemälde, das zwei Schwestern beim Schreiben und Stricken zeigt, hat die Ältere ihr Heft kurz beiseite gelegt, um der kleineren mit dem Strickzeug zu helfen. Das Heft leuchtet im Schein der Petroleumlampe.
«Man hat fast das Gefühl, dass es eine Art geistiger Prozess des Erkennens, der Erleuchtung ist. Aber das ist so ungezwungen ins Bild gesetzt, wie alles bei ihm so ungezwungen ausschaut.»
Die Ausstellung lädt dazu ein, Albert Anker neu zu sehen. Aber auch über das Recht auf Bildung nachzudenken, das bis heute nicht überall für alle gilt.