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Big Dada Müllkunst des Widerstands: Kurt Schwitters und Thomas Hirschhorn

Kurt Schwitters schuf in einem biederen Häuschen eine Raum-Collage, die nur wenige Menschen im Original gesehen haben. Dennoch hat die legendäre Installation viele Künstler beeinflusst. Auch Thomas Hirschhorn.

«Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!

Du, Deiner; Dich Dir, ich Dir, Du mir, - - - - wir?

Das gehört beiläufig nicht hierher!»

Der Merzbau zu Basel: 2004 wurde der Schwitters-Bau im Tinguely Museum rekonstruiert.
Legende: Der Merzbau zu Basel: 2004 wurde er im Tinguely Museum rekonstruiert. Keystone

Kurt Schwitters Gedicht «An Anna Blume» gehört heute zu den Klassikern der modernen Lyrik. Es bricht in frecher Form mit literarischen Gepflogenheiten, verbindet Paradoxes und Triviales mit dem Pathos des Verliebtseins. Im Juni 1920 hing das Gedicht an zahlreichen Litfasssäulen in Hannover und erregte die Gemüter.

Kurt Schwitters, hauptberuflich Werbegrafiker, liebte überraschende Montagen. Er schrieb Gedichte und klebte Collagen. Sein Hauptwerk war der Merzbau, eine grottenartige Collage-Raum-Skulptur. Schwitters begann in seinem Atelier an dem Merzbau zu arbeiten. Doch bald wucherte das bizarre Gebilde aus Fundmaterialien durch alle Räume des Hauses.

«Ein Abbild der Revolution in mir»

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Die Materialwahl war der schlechten Wirtschaftslage nach dem Ersten Weltkrieg geschuldet. Aus Sparsamkeit habe er für seinen Merzbau genommen, was er fand, sagte Schwitters einmal, «denn wir waren ein verarmtes Land. Man kann auch mit Müllabfällen schreien und das tat ich, indem ich sie zusammenleimte und -nagelte. Ich nannte es Merz, es war aber mein Gebet über den siegreichen Ausgang des Krieges, denn noch einmal hatte der Frieden wieder gesiegt.»

Merz nannte Schwitters seine individuelle Form von Dada. Das Wort bedeuet – wie auch Dada – nichts und fand sich zufällig beim Kleben einer Collage. Seinem Merzbau verleibte Schwitters Alltagsgegenstände und Erinnerungsstücke ein. Aber auch Reproduktionen bekannter Kunstwerke, um sich über die oberflächliche Kunstrezeption des Bürgertums zu mokieren. Schwitters Merzbau war ein Freudenschrei über das Ende des Krieges, aber auch eine Art Monument des inneren Widerstandes gegen seine Zeit. «Es war wie ein Abbild der Revolution in mir», sagte Schwitters.

Der Original-Merzbau wurde, wie viele weitere Werke von Schwitters, bei einem Bombenangriff zerstört. Im Sprengel Museum Hannover steht heute ein Nachbau der legendären Raum-Collage. Angeregt wurde diese Rekonstruktion übrigens von dem Schweizer Kurator Harald Szeemann.

Aussichtsplattform für zerstörte Kunst

Ein weiterer Schweizer setzte sich intensiv mit dem Merzbau auseinander: Thomas Hirschhorn, der mit seinen ausufernden Installationen aus Wohlstandsabfall und Pressefotos Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen der Welt übt. 2007 schuf Thomas Hirschhorn auf Einladung des Sprengel Museums die «Kurt-Schwitters-Plattform».

Das begehbare Objekt, eine einfache Holzkonstruktion, stand im Garten des Hauses Waldhausenstrasse Nr. 4. in Hannover – dort, wo sich einst der Merzbau befunden haben muss. Es war eine Art Aussichtsplattform für eine zerstörte Sehenswürdigkeit.

Kristall und Widerstand

Big Dada

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1916, Erster Weltkrieg: Europa blutet. Nur in der kleinen Oase Schweiz herrscht vermeintlich Ruhe. Dort gründen Künstler Dada und revolutionieren die Kunst. Zum 100. Geburtstag begibt sich SRF Kultur auf Spurensuche – im Radio, Fernsehen und online. Denn: Dadas Geist lebt. SRF Kultur weiss wo.

www.srf.ch/bigdada

Eine künstlerische Verwandtschaft mit dem hannoverschen Dadaisten ist auch in anderen Arbeiten Hirschhorns sichtbar. Zum Beispiel in seiner Installation für die Biennale Venedig 2011. Thomas Hirschhorn installierte im Schweizer Pavillon eine kristalline Grotte, die er «Crystal of Resistance» (Kristall des Widerstandes) nannte.

Hirschhorn verwandelte den nüchternen Ausstellungsraum in eine bizarre Grotte, die er mit Abfallgegenständen wie Autosesseln, Altglas, Plastikstühlen, Wattestäbchen, Barbiepuppen anfüllte. Dazwischen lagen, klebten, hingen (zum Teil an durch den Raum gespannten Wäscheleinen) zahllose Fotos von Krieg und Gewalt und Terror sowie echte Kristalle und aus Alufolie und Karton geformte kristalline Gebilde.

Hirschhorn möchte mit Arbeiten wie dieser auf die zahlreichen Konflikte in der Welt hinweisen. Er versucht, diese Konflikte in seine Werke einzuarbeiten, sie mit dem hier durch die Kristalle symbolisierten Schönen und Positiven zu verbinden und so ein Bild der Welt zu erzeugen, in dem Schrecken und Schönheit dicht beieinander stehen.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 09.02.2015, 17:45 Uhr

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