Tief in ihren Sofas eingesunken, an Bistrotischchen, an Kunstvernissagen, im Supermarkt, am Strand oder in Kinofoyers sitzen und stehen Claire Bretéchers Figuren – sie diskutieren, labern, streiten und widersprechen sich.
Wie im richtigen Leben: Bretécher schuf keine Kunst- oder Fantasiewelten, sondern karikierte den Alltag ihres eigenen Umfelds: das urbane, gebildete und begüterte linksliberale Establishments nach 1968. Es ging um Erziehung und Revolution, um Menstruation und Frauenrechte, um Chauvinismus und Arbeit.
Die «grösste Soziologin Frankreichs»
Dabei sezierte sie genüsslich die Widersprüche und Heucheleien dieser sich moralisch überlegen wähnenden Gutmenschen, indem sie die Fallhöhe zwischen dem idealisierenden Selbstbild und ihrer alltäglichen Wirklichkeit entlarvte.
Das tat sie in ihren kurzen Comics so genau und treffsicher, dass der Philosoph Roland Barthes sie 1976 als die «grösste Soziologin Frankreichs» bezeichnete. Das tat Bretécher zwar als «Unsinn» ab, doch möchte man Barthes recht geben. Mit der Einschränkung, dass Bretéchers Comics natürlich sehr viel komischer waren als die einschlägigen Soziologiewälzer der 1970er-Jahre.
Frustriert und tendenziell unglücklich
Claire Bretécher war in vielerlei Hinsicht eine Pionierin. Ihre Bedeutung für die Welt der Comics ist kaum zu überschätzen.
Die 1940 geborene Französin, die in einer konservativen katholischen Familie aufwuchs, wurde 1963 von René Goscinny entdeckt. Sie zeichnete sich zunächst durch Frankreichs Comic-Presse.
Ihre Stimme fand sie 1969, als sie für die Zeitschrift Pilote die Prinzessin Cellulite schuf, die nicht länger auf ihren Traumprinzen warten mag – die erste von vielen frustrierten und tendenziell unglücklichen Frauen. Bretéchers weiblicher Blick auf die Gesellschaft und ihre dezidiert feministische Haltung waren in der damaligen, männerdominierten Comicwelt sehr ungewöhnlich.
Gesellschaftskritik im Comic
Der Erfolg gab Bretécher recht: Ihre Serie «Die Frustrierten» (1975-1980), die sie Woche für Woche für das Politmagazin Le Nouvel Observateur zeichnete, wurde zu einem Bestseller.
Mit der Serie erreichte sie ein Publikum weit über die Grenzen der Comicszene. Damit trug Bretécher Entscheidendes dazu bei, dass Politik und Gesellschaftskritik im Comic Eingang fanden.
Schneller und skizzenhafter Stil
Bretéchers Humor war vielfältig. Sie konnte scharf sein, böse, bissig, aber auch liebevoll. Sie war unbestechlich und undogmatisch und liess sich von keiner Ideologie, nicht einmal dem Feminismus, vereinnahmen.
Und doch schwingt in vielen ihren Geschichten auch ein Hauch Melancholie mit – schliesslich setzte sie sich mit den Unzulänglichkeiten ihrer eigenen Lebenswelt auseinander.
In ihren Anfängen wurde Bretécher wiederholt der Vorwurf gemacht, sie könne nicht zeichnen. Das war natürlich Humbug, denn ihr Strich und ihre Inhalte bildeten eine untrennbare Einheit. Ihr Zeichnen wirkte auch mehr wie ein Schreiben – ihr Strich war schnell, skizzenhaft und brachte viele Verfahren der Karikatur in den Comic ein.
Einfluss auf Comic-Zeichner Ralf König
Es ging Bretécher nie um die schöne Zeichnung, sondern um die korrekte Darstellung der hässlichen Mittelmässigkeit ihrer Figuren, deren Merkmale Augenringe waren, schlecht frisierte Haare, fragwürdiger Kleidergeschmack, Hüftspeck.
Auch ihr Zeichenstil machte Schule: Die spätere Charlie-Hebdo-Zeichnerin Catherine Meurisse, aber auch Ralf König haben sich immer zu ihrem Einfluss auf ihre Arbeit bekannt.
Bretécher hat viele Türen aufgestossen, inhaltlich wie auch zeichnerisch. Ihr grösster Verdienst ist es vermutlich, Entscheidendes zur Feminisierung des Comics beigetragen zu haben. Dank ihr begannen viele Frauen, Comics zu lesen, und einige davon wurden Comiczeichnerinnen.
Nun ist Claire Bretécher am 11. Februar 79-jährig in Paris verstorben .
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 12.02.2020, 7:20 Uhr