Da sitzt eine Asiatin und antwortet auf Fragen der Journalisten. «Eine Bekannte sagte mir, die Bedingungen sind gut, sie zahlen gut», erzählt sie. Die Frau ist eine von zwölf kasachischen Arbeitssklavinnen, die von Bürgerrechtsaktivisten aus einem Moskauer Lebensmittelladen befreit werden konnten.
Viktoria Lomasko zeichnet sie sitzend, verletzlich. Gegenüber hat sich eine Gruppe von Journalisten aufgebaut: verschränkte Arme, gelangweilte Gesichter, gezückte Kamera, teilnahmslose Blicke. Es ist ein Schlüsselbild in Viktoria Lomaskos Buch «Die Unsichtbaren und die Zornigen».
Gebrochene Finger und blaue Flecken
Die Künstlerin ist nicht an Unglücksvoyeurismus interessiert. Vielmehr fühlt sie sich in all das Unglück der von ihr Porträtierten ein und reflektiert die Hintergründe: «Die russische Regierung hat gezielt viel unternommen, die Menschen so zu vereinzeln, dass sie praktisch nichts voneinander wissen», sagt sie. Alle Schichten der Gesellschaft seien stark isoliert.
«Die Arbeitssklavinnen hatten gebrochene Finger, Wunden und blaue Flecken. Sie wurden vergewaltigt. Ein Kind, das in der Sklaverei geboren worden war, ist stark behindert. Keiner nahm davon Notiz. Es hat auch nie einen Gerichtsprozess gegeben. Das Geschäft gibt es meines Wissens bis heute mit denselben Betreibern.»
Eine Stimme für die Unsichtbaren
Im Comic wachsen den Schwachen bekanntlich Flügel. In Viktoria Lomaskos «graphic reportages» bekommen die Unsichtbaren eine Stimme und ein Gesicht.
Sie erzählt von einer alten, obdachlosen Frau, die der Sohn vor die Tür gesetzt hat, damit er ungestört trinken kann. Oder von Kindern und Jugendlichen in der Haftanstalt, in der Viktoria Lomasko einige Zeit als Kunsttherapeutin gearbeitet hat.
Moskau ist eine Strasse
Sie war zu Besuch in einer Dorfschule, in der die Lehrerin die Schüler fragt, ob «Moskau» ein Name oder eine Bezeichnung sei. Einer der drei Schüler meint, Moskau sei eine Strasse. Denn es gibt kein russisches Dorf ohne eine «uliza Moskowskaja». Eine Momentaufnahme, die alles sagt über die russische Provinz.
Mit schnellem, präzisem Strich porträtiert die Künstlerin ihr Land – schonungslos, aber voller Witz und Empathie. Für Russen sind «Die Unsichtbaren und die Zornigen» wohl so erstaunlich wie ein Marvel-Comic. Denn Viktoria Lomaskos Welten werden in den hurra-patriotischen Medien tunlichst verschwiegen.
Was es heisst, Teil der Gesellschaft zu sein
Das Buch besteht aus zwei Teilen, aus den «Unsichtbaren» und den «Zornigen». Der zweite Teil erzählt von den Meetings und all den Gerichtsprozessen gegen Künstler.
Viktoria Lomaskos betont: «Ich arbeite aber anders als ein Journalist. Ich wähle die Leute, die ich interviewe, nach persönlichen Kriterien aus. Mein Eindruck nach all den Treffen und Gesprächen ist, dass die Menschen in Russland eigentlich nicht verstehen, was es heisst, Teil einer Gesellschaft zu sein. Die Mehrheit der Menschen sieht überhaupt keinen Zusammenhang zwischen ihrem Leben und dem Land.»
Für diesen Zusammenhang sorgt eindrucksvoll das Buch, das in enger künstlerischer Zusammenarbeit mit den porträtierten Menschen entstanden ist.
Momentaufnahmen aus der Provinz
Ihre Stimmen und ihr Wesen sind ebenso Teil der Reportagen wie die politische Situation. Von der ersten Seite an ist man mittendrin in Russland, auf dem Land bei den Verlierern oder bei den Widerständigen gegen das Putin-Regime.
Oder zu Besuch bei Viktoria Lomaskos Tante Ljuda, die sich beschwert, dass sie bei ihren Spaziergängen mit dem Hund niemanden mehr treffe. Alle, so Ljuda, seien in der Kirche. So sieht es aus, das Leben 100 Kilometer hinter Moskau.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 16.3.2018, 17:20 Uhr