«Hallo, entschuldigen Sie die Störung. Ich mache eine Fotoserie zu Menschen auf ihren Balkonen.» Der Fotograf Marko Stevic steht im Quartier Sous-Gare in Lausanne. Auf dem Balkon sitzen vier Frauen und trinken Kaffee.
Sie sind sofort einverstanden, dass der 33-Jährige Fotos von ihnen macht. Danach fragt er nach den Vornamen der Frauen: Vanessa, Tara, Samanta und Georgia. «Wollen Sie auch meine Telefonnummer?», fragt die eine Frau lachend. «Derzeit ist das wirklich schwierig.»
Marko geht weiter um das Wohnhaus. Er trägt Vollbart und ein T-Shirt, auf dessen Rückseite auf Serbisch steht: «Alle zusammen».
Serbien und die Schweiz, das sind die zwei Welten des Marko Stevic. Er ist in der Westschweiz aufgewachsen und hat die Kunsthochschule ECAL in Lausanne besucht.
Ältere Menschen sind skeptisch
Im Wohnhaus der vier Frauen wollte er eigentlich Selam einen Besuch abstatten, einer Freundin von ihm. Doch beim Weg um das Haus wartet schon das nächste, unerwartete Porträt: Aïcha steht auf dem Balkon, auch sie willigt ein. Ihr Vorname schreibe sich gleich wie das Lied: «A-ï-c-h-a».
Auf dem Balkon über ihr schaut ein älterer Mann heraus. Er will sich nicht fotografieren lassen und geht wieder in seine Wohnung.
Eine Erfahrung, wie sie Marko Stevic immer wieder macht auf seinen Streifzügen durch Lausanne. Jüngere Menschen willigen oft ein, bei den Pensionären ist die Skepsis grösser und es gibt viele Absagen.
Drei Puzzle, Küche, Ofen
Als Marko Stevic endlich um den Block gegangen ist, freut sich Selam, ihn zu sehen. Wie es ihr gehe? «Ça va», sagt sie. Sie habe schon den Keller aufgeräumt, den Kühlschrank geputzt und auch den Backofen. Drei grosse Puzzle habe sie gemacht. Jetzt gingen ihr die Aktivitäten langsam aus.
Was auffällt beim Spaziergang mit Marko Stevic: Die Leute freuen sich über den Besuch. Auch das ist anders als in Zeiten von Courant Normal, wenn jeder voll beschäftigt ist.
Stevic organisiert seine Spaziergänge jeweils den Wohnungen von drei bis vier Freunden nach. So hat er einige Fotos auf sicher.
Für ihn als Fotograf ist die Corona-Krise auch eine Chance. Er war schon vor dem Lockdown ohne festen Job. Nun wird die Fotoserie in einem Buch und einer Ausstellung münden.
Begegnen trotz Stay Home
Den Nachmittag begonnen hatten wir in seinem Quartier, im oberen Teil der Stadt Lausanne. Auf dem Balkon im dritten Stock steht Ngoclan, eine Nachbarin von Marko Stevic. Er dirigiert sie per Telefon, lichtet sie ab, über ihr eine Fähnchen-Girlande: «Stay Home».
Auch mit Fatma hat der Fotograf abgemacht. Sie schaut aus einem Fenster. Auf dem Weg zu ihr entdeckt ihn Hervé – mit ihm hatte sich Marko Stevic nicht verabredet, er kennt ihn aber. Hervé hat gerade wieder begonnen zu arbeiten, zuvor war er auf Kurzarbeit.
Jedes Foto ein Stück Geschichte
Auch zur Mutter eines Freundes von Marko Stevic geht es an diesem Nachmittag noch. Es ist die Mutter des Regisseurs Basil de Cunha, der gerade mit dem Schweizer Filmpreis für die beste Kamera ausgezeichnet wurde.
Sie wohnt in der Dachwohnung eines Mehrfamilienhauses. Weit weg von der Strasse aus fotografiert Marko Stevic – keine einfachen Bedingungen für gute Bilder.
Aber genau das mache den Charme dieser Serie aus, sagt er. «Diese spezielle Zeit muss man einfach dokumentieren.» Und: «C’est historique.»
Jedes Foto sei ein Stück Geschichte, auch wenn das Konzept dahinter einfach sei. Solange der Lockdown noch anhält, schaut Marko Stevic in Lausanne weiter auf die Balkone und die Fenster.