Das Floss gerät ins Wanken, als die schmale Frau es am Tau zu sich zieht. Darauf steht ein menschenhohes Schneckenhaus, durch dessen gläserne Wände Lichtflecken auf den Fluss fallen: in grün, blau und lila. Gebaut hat diese Konstruktion die Künstlerin Chang En-Man, die zum ersten Mal auf der documenta in Kassel ausstellt.

Sie hat sich den Schnecken verschrieben, genauer: der grossen Achatschnecke. Als die japanischen Besatzer die grosse Achatschnecke 1933 nach Taiwan holen, sollen die Tiere als billige Nährstoffquelle dienen. Innerhalb kürzester Zeit wird das Tier für das indigene Volk der Paiwan, dem die Mutter der Künstlerin angehört, jedoch zum Problem.
Denn die Schnecken sind Invasoren: Sie fressen sich durch Felder und vermehren sich in einem rasanten Tempo. Die Paiwan braten die Schnecken darum für ihre Festspeise «Cinavu». Muss man Invasoren aufessen? Chang En-Man lacht, als ihre Assistentin die englische Frage übersetzt. Dann wird sie ernst. Natürlich seien die Tiere eine Proteinquelle. Aber sie seien auch unrein: «very dirty, yes?»
Gegen Kolonialismus und dessen Nachwehen
Der Kampf gegen Invasoren ist eines der alles bestimmenden Themen auf der aktuellen documenta, die am 18. Juni eröffnete. Mit der einstigen Übermacht des Kolonialismus und dessen Nachwehen setzen sich in der 15. Ausgabe zahlreiche Arbeiten auseinander. Eingeladen hatte das indonesische Kollektiv Ruangrupa – und im Kollektiv kam die Kunst nach Kassel.

Die Künstlerinnen und Künstler auf der documenta sind Teil des sogenannten Lumbungs. Eigentlich bezeichnet das Wort eine traditionelle Reisscheune. Das Kuratoren-Kollektiv bedient sich aber der metaphorischen Bedeutung: Gemeinsam säen, ernten und Essen teilen – zusammen sein und zusammen erschaffen.
Kochen für die Kunst
In die Praxis setzt das beispielsweise das Kollektiv Britto Arts Trust aus Bangladesch um. Die Künstlerin Tayeba Lipi zeigt uns den Palan, einen bengalischen Gemüsegarten, den das Kollektiv neben der documenta-Halle angelegt hat: In der Mitte thront unter Schirmen aus hellem Geflecht die Küche.

«In den ländlichen Gebieten in Bangladesch gibt es das Konzept eines Wohnzimmers gar nicht», erklärt Tayeba Lipi: «Die Familie hält sich dort auf, wo gekocht wird – also in der Küche.» Auf der documenta organisiert das Kollektiv darum eine «Pak Gho», eine soziale Küche. Menschen aus 100 Nationen kochen an den 100 Tagen der Kunstausstellung gemeinsam ihre Lieblingsgerichte.
Die Perspektive des globalen Südens
Auf der documenta fifteen geht es nicht um grosse Namen. Es geht nicht um Werke, die eigens für die documenta gefertigt und ausgestellt werden, um im Anschluss wieder zu verschwinden. Stattdessen setzt man auf die Kraft einer nachhaltigen Gemeinschaft: auf viele Kollektive, von denen der grösste Teil aus dem globalen Süden stammt.
Als Besucherin muss man sich in Kassel an manch Neues gewöhnen. Etwa, wenn der Geschichtenerzähler Agus Nur Amal, kurz PMTOH, in seiner Ausstellung explizit zum Anfassen seiner beweglichen Stücke aufruft: So trifft man auf Hühner, die nach Korn suchen – bei PMTOH sind das Gartenschläuche, die auf Blech schlagen.

«Die Installation ist schlecht, aber ich mag die Idee», sagt der Geschichtenerzähler und grinst. Und wenn schon: Das gemeinschaftliche Spielen zählt bei dieser documenta sowieso mehr als je zuvor.
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