Als 14-jähriger unternimmt Prinz Charles erste Skiversuche in Tarasp. Auf der Wiese unter dem Schloss tastet sich der scheue Prinz von Presse umringt ungelenkig auf seinen Skiern vorwärts. Während sich daneben die Kinder des Schlossverwalters mit Geschrei in den Tiefschnee stürzen und stolz ihre Medaillen von Skirennen in die Kamera zeigen.
Susanna Fanzun wächst als Tochter des Schlossverwalters in einem Engadinerhaus am Fuss des Schlosses auf. Im Winter spielt sie immer wieder mit Prinzessinnen und Prinzen im Schnee. 1925 hatte ihr Grossvater die Schlossverwaltung übernommen. Damals gehört das Schloss der Familie von Hessen und bei Rhein.
Die Adligen verbringen nur wenige Tage im Jahr in Tarasp. Zu den Aufgaben des Schlossverwalters gehören Schlossführungen, die Pflege von Park und See und der Unterhalt des Schlosses. Susanna ist fast täglich im Schloss. «Als Mädchen musste ich immer wieder abends ins Schloss hoch, um ein Fenster zu schliessen oder das Licht zu löschen. Gespenster habe ich auch gehört, mehr als einmal.»
Unser Schloss wird verkauft
Die Familie darf den Ort für Geburtstage, Taufen und Sommerfeste nutzen. Susanna Fanzun hat sogar hier geheiratet. Von den Dorfbewohnern wird das Schloss stolz «Nos chastè» genannt, «Unser Schloss». Um so grösser ist der Schock, als 2005 bekannt wird, dass es zum Verkauf steht. Das ist der Moment, in dem Susanna Fanzun die Kamera in die Hand nimmt und anfängt zu filmen.
Fanzun arbeitet als freie Regisseurin. Ihr Film «I Giacometti» über die Familie Giacometti wurde 2023 als erfolgreichster Schweizer Dokumentarfilm ausgezeichnet. Fast 20 Jahre begleitet die Filmemacherin die Geschichte des Schlosses und die Auswirkungen, die die Veränderungen auf ihre Familie haben. So entsteht ein sehr persönlicher Dokumentarfilm, der sein Publikum nicht nur in der Region findet, sondern auch auf internationalen Filmfestivals.
Der Dokfilm ist auch deshalb so interessant, weil 2015 eine überraschende Kehrtwende eintritt: Der Bündner Künstler Not Vital kauft das Schloss, nachdem es elf Jahre lang zum Verkauf stand. Not Vital hat grosse Pläne: Das Schloss Tarasp soll ein Gesamtkunstwerk und eine Kulturattraktion werden.
Not Vital räumt um und aus, hängt alte Bilder ab und neue auf, veranstaltet Kunstausstellungen, Partys und Konzerte. Es gibt wieder fliessendes kaltes und warmes Wasser im ganzen Schloss und eine funktionierende Heizung. Das Schloss lebt.
Doch nicht alle Änderungen stossen bei der Schlossverwalterfamilie Fanzun auf Gegenliebe. Als Not Vital jahrhundertealte Wildkastanienbäume einfach abholzt und ein Teehaus abbricht, um den Blick auf seinen neu gebauten monumentalen Turm freizugeben, eskaliert die Situation. Der Bruder von Susanna, Jon Fanzun, der inzwischen die Verwaltung vom Vater übernommen hatte, kündigt seinen Job nach 28 Jahren als Schlossverwalter.
Der Bruch ist für die ganze Familie nicht einfach. Susanna hält auch dieses Abschiednehmen mit der Kamera fest. Es ist ein langer und schmerzhafter Ablösungsprozess. «Nach dem Rohschnitt habe ich mit meinen Geschwistern den Film gesichtet, und ein zweites Mal, als er fast fertig war. Dann sind wir ins Schlossrestaurant Chastè und haben zusammen zu Mittag gegessen. Das war wie ein Abschiedsritual.»