Seien es Aufnahmen von Schneekristallen, Glühwürmchen oder von Oma im Kreis der Familie: Ruth und Peter Herzog interessierten sich seit den 1970er-Jahren für das, was viele andere kaltliess: Für historische Fotografie ab 1840, die nicht von bekannten Fotografen gemacht wurde, sondern oft anonym und oft von Amateuren geknipst wurde.
Eine halbe Million Fotos hat das Sammlerpaar zusammengetragen. Gleich mehrere Ausstellungen in Basel zeigen nun einen Überblick.
Zu sehen ist in allen Ausstellungen «vernacular photography», also Aufnahmen aus dem wissenschaftlichen, dokumentarischen oder privaten Rahmen.
Im Basler Kunstmuseum liegen zum Beispiel in Vitrinen einige wenige der sehr vielen Familienalben aus der Sammlung aus dem 19. und 20. Jahrhundert.
Alle glücklichen Familien gleichen sich: Leo Tolstois Einsicht folgend, zeigen auch diese Fotos bürgerlicher Familien immer dasselbe: Säuglinge im Taufkleid, runde Geburtstage, Papas Lieblingshund. Jede Familie präsentiert sich als eine glückliche.
Sichtbar wird, wie sich visuelle Konventionen herausbilden. Bildtypen sind erkennbar. So wurde eine Familie und ihr Glück dargestellt – und manche dieser Regeln gelten heute noch, das zeigt ein Seitenblick auf Instagram.
Fotogeschichte der Ränder
Der spezielle Geschmack des Sammlerpaars sorgt dafür, dass die immer gleichen Fotos aus bürgerlichen Familien nicht langweilig werden. Nicht nur der Regelfall interessierte sie, sondern auch die Kuriosität.
So ist im Kunstmuseum neben europäischen Familienalben auch das Album eines Sultans zu sehen, der seine Haremsdamen fotografisch geradezu inventarisierte.
Zauber der Zeitreisen
So fremd diese Menschen in steifer Haltung und ernster Miene wirken, sie üben eine eigentümliche Anziehungskraft auf heutige Betrachterinnen und Betrachter aus.
Wer war die blinde Frau mit der runden Brille? Wem gehört die Hand, die ein Kind in der langen Belichtungszeit ruhig hält? Welche Geschichten stecken hinter den Fotos?
Die Fragen stellen sich umso drängender, als alle Fotos aus demselben Grund entstehen. Damals wie heute. Ein spezieller Augenblick soll festgehalten werden.
Die längst toten Menschen, die hinter der Kamera standen, taten dasselbe wie wir. Sie knipsten damals, wir knipsen heute. Über diese Parallele lässt sich gut in die Vergangenheit reisen.
Mustergültige Präsentation
Die Sammlung der Herzogs wuchert in diverse Richtungen, neben den Familienalben finden sich darin unzählige weitere Fototypen aus Presse, Industrie und Forschung.
Wie die frühneuzeitlichen Wunderkammern mit ihren Haifischzähnen, Porzellantassen und Riesenquallen dokumentiert diese Sammlung die menschlichen Versuche, die sichtbare (und sogar nicht-sichtbare) Welt zu begreifen. Darin ist sie ausserordentlich.
Im Kunstmuseum Basel findet sie zu einer ausserordentlichen Präsentation: Über Vitrinen ist die Archivsituation dieser oft sehr kleinen Quellen und Originaldokumente präsent, an den Wänden sorgen grosse Projektionen der historischen Fotos für museal inszenierte Höhepunkte.
Nach den ersten Sälen, die sich ganz der Fotosammlung widmen, konfrontiert der zweite Teil der Ausstellung die historischen Fotos mit Bildern aus der Sammlung des Kunstmuseums.
Der Eiffelturm ist auf historischen Fotografien zu sehen und auf einem der zersplitterten Bilder von Robert Delaunay. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Warum gilt das eine als Kunst und das andere nicht? Und sahen Fotograf und Maler eigentlich dasselbe?
Dass diese Ausstellung zum konzentrierten Sehen, Bilderlesen und Fragenstellen verführt, ist ihr grosses Plus.