Forensic Architecture widmet sich der digitalen Erforschung von Menschenrechtsverletzungen.
Das Kollektiv aus Designern, Architekten, Filmemachern und Softwareentwicklern rekonstruiert Tatorte und Tathergänge und ermittelt so juristische Beweise bei Kriegsverbrechen.
Forensische Genauigkeit
Für die minuziöse Nachbildung von gewaltvollen Ereignissen verwendet Forensic Architecture Daten aus dem Netz.
Man wertet Meta Daten aus, Satellitenaufnahmen oder Bilder aus sozialen Medien aus, bettet sie in 3-D-Visualisierungen ein und setzt sie in einen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang.
Die Gruppe versucht so mit architektonischem Werkzeug zu verstehen, was passiert ist. Um dann akribisch und mit forensischer Genauigkeit eine kohärente Geschichte eines Geschehnisses nachzuerzählen und Beweismaterial zu liefern.
Gemeinsam mit Amnesty International hat Forensic Architecture etwa eine virtuelle Ansicht des von der Öffentlichkeit abgeschirmten Foltergefängnisses Saydnaya in Syrien rekonstruiert. Allein aufgrund der Zeugenaussagen von Überlebenden.
Gründer Eyal Weizman
Der israelische Architekt und Aktivist Eyal Weizman hat das unabhängige Forscherteam 2011 zusammengestellt. Es gründet auf seinem jahrzehntelangen Engagement als Menschenrechtsaktivist in Palästina. Dabei ging es ihm um die Entlarvung israelischer Siedlerarchitektur als Machtmittel.
Mit der Veränderung des Medienumfeldes, veränderte sich sein Tätigkeitsbereich: «Plötzlich kam die Flut von benutzergeneriertem Material aus Konfliktzonen», sagt Eyal Weizman.
«Da verstand ich: Dieselben Techniken, die ich verwendete, um die langsame Gewalt von architektonischer Besetzung abzubilden, kann ich auch einsetzen, um jeden Gewaltakt zu beschreiben, der im urbanen Raum stattfindet.»
Turner Prize – Fluch oder Segen?
Der Hybrid aus Architekturstudio und Menschenrechtsforschung ist dieses Jahr für den prestigeträchtigen Turner Prize nominiert. Die Akzeptanz in der Kunstwelt bedeutet ihnen nicht nur Bestätigung.
«Es ist ein grosses Kompliment, dass die Kunstwelt unsere Arbeit als eine neue Form der kreativen Produktion versteht», sagt Weizman. «Andererseits ist es immer eine Gefahr, als Künstler wahrgenommen zu werden und damit die politische Ernsthaftigkeit zu verlieren, die dahintersteht.»
Dem Unrecht ein Gesicht geben
Die Frage, ob ihre Arbeit Kunst ist oder nicht, hat Forensic Architecture längst hinter sich gelassen. Das Kollektiv präsentiert iseine Projekte vor Gericht oder in Museen – für das Team eine Art alternativer Gerichtssaal.
Was zählt, ist das öffentliche Forum. Gehört und gesehen werden. «Unser wichtigstes und einziges Ziel ist es, im Dienste der Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit staatliche Machtmonopole zu durchleuchten», sagt Weizman.
So sind er und seine Mitstreiter mit interdisziplinär gebündelter, investigativer Kraft, mit Kunst und Wissenschaft der Wahrheit auf der Spur. Sie hinterfragen staatliche und unternehmerische Macht und versuchen mit ihrer Arbeit dem Unrecht ein Gesicht zu geben.