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Fotoband «Rendez-Vous» Wenn die eigenen Kinder zum Kunstprojekt werden

Caroline Minjolle fotografiert 25 Jahre lang ihre Söhne. Das Fotoprojekt gibt intime Einblicke ins Erwachsenwerden.

Schwanger zu sein sei einer der wundersamsten Prozesse, die eine Frau an ihrem Körper erfahren kann. Da ist es nur verständlich, dass werdende Mütter diesen Prozess fotografisch dokumentieren.

Als Caroline Minjolle 1995 schwanger wird, tut sie das ebenfalls. Die französische Fotografin, die in Zürich lebt, inszeniert ihren wachsenden Bauch einmal im Monat vor einer weissen Fotowand. Doch im Unterschied zu vielen anderen Müttern, wird sie die Dokumentation dieses Wunders 25 Jahre lang weiterführen.

Vom Baby zum Kleinkind

Das Ergebnis dieser künstlerischen Langzeit-Arbeit ist nun in ihrem Fotoband «Rendez-Vous» zu bestaunen. Auf den ersten Seiten gehört die Bühne voll und ganz ihrem Sohn Merlin. Vom Baby zum Kleinkind ist man Monat für Monat Zeuge seines Heranwachsens.

Dann, zweieinhalb Jahre und rund dreissig Fotografien später, gesellt sich sein Bruder Basil vor die Linse. Caroline Minjolle arbeitet bei den allmonatlichen Fotoshootings mit ihren Söhnen bewusst mit allerlei Accessoires. Mal setzt sie ihnen Plastikohren auf, mal gibt’s Lockenwickler in die Haare oder Gummi-Insekten auf den Bauch.

Die Söhne verändern sich, die Qualität bleibt

Die meisten Fotos entstehen zu Hause im Wohnzimmer vor der weissen Fotowand. Immer mit dabei: die analoge Hasselblad-Kamera im 6x6-Format mit Schwarzweiss-Film.

Die Söhne verändern sich über die Jahre – die Bildqualität bleibt die gleiche. Dadurch wirken die Fotos zeitlos.

Je älter die beiden Söhne werden, umso mehr bestimmen sie den Inhalt dieser spielerischen Inszenierungen mit. Wasserpistolen in den Händen der Jungs markieren die Pubertät. Das gebrochene Bein von Merlin muss auch aufs Bild und als die Eltern sich scheiden lassen, posieren die beiden Jugendlichen als Anwälte verkleidet vor der Kamera ihrer Mutter.

Aus den Kindern werden nachdenkliche Erwachsene

Mit der Zeit wird diese lustvolle Stimmung auf den Fotos aber immer seltener. Als Merlin 18 Jahre alt ist, äussern die beiden Söhne den Wunsch, nicht mehr allmonatlich inszeniert zu werden.

Das Kunstprojekt der Mutter soll deswegen aber nicht zu Ende gehen. Man einigt sich auf drei, vier schlichte Portrait-Fotos im Jahr.

Zwei junge Männer mit weissem Shirt
Legende: Aus den monatlichen Inszenierungen wurden vier schlichte Portraits-Fotos pro Jahr. Caroline Minjolle

Die beiden jungen Erwachsenen sind nachdenklicher geworden. In den meisten Fotos schauen sie ernst, wirken melancholisch.

Spätestens hier wird klar: das ist nicht einfach ein Familienalbum. Dieser künstlerische Fotoband hält uns einen Spiegel vor und lenkt die Gedanken unweigerlich auf die eigene Biografie, die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.

Buchhinweis:

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Caroline Minjolle: «Rendez-Vous». Arisverlag, 2021.

Die Bilder machen Unangenehmes sichtbar

Dadurch reiht es sich auch ein in andere Langzeit-Foto-Dokumentationen. Berühmtestes Beispiel sind die «Brown-Sisters»: 40 Fotografien aus 40 Jahren von vier Schwestern aus dem US-Bundesstaat Massachusetts.

Immer gleich inszeniert, nebeneinander stehend. Auch hier kann man den Altersprozess und die Entwicklung der unterschiedlichen Persönlichkeiten von Bild zu Bild mitverfolgen.

Im Buch «Rendez-Vous» von Caroline Minjolle ist neben den Fotografien ein Interview mit ihr und den beiden Söhnen zu lesen. Merlin steht hinter dem Kunstprojekt seiner Mutter, sagt aber an einer Stelle: «Mein jeweiliges Befinden, meine Persönlichkeit ist in diesen Bildern offengelegt. Das ist sehr intim. Es gibt darunter auch Bilder, die mich in einer Phase zeigen, an die ich nicht unbedingt erinnert werden möchte.»

Zwei Knaben ziehen Grimasse
Legende: Das Langzeitprojekt wirft Fragen auf: Darf man seine Kinder als Objekt für seine Kunst verwenden? Caroline Minjolle

Darf man seine Kinder überhaupt fotografieren?

Solche Aussagen unterstreichen die Fragezeichen, die sich generell bei solchen Langzeit-Fotoprojekten mit Kindern stellen: Darf man seine Kinder als Objekte für die eigene Kunst verwenden?

Wie sieht es mit dem Recht des Kindes auf das eigene Bild aus? In Zeiten von Social Media sind diese Fragen aktueller denn je.

19. April 2020 – Basil und Merlin sind dicht beieinander, in Gedanken versunken. Aus den beiden Kids sind junge Erwachsene mit eigenen Charakteren geworden. Es ist das letzte Bild im Buch – die fotografischen Rendez-Vous im Wohnzimmer gehen weiter.

SRF 1, Kulturplatz, 31.3.2021, 22:25 Uhr.

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