Ein Foto von 2015 zeigt einen Mann im weissen Anzug: Um den Hals trägt er einen Plastik-Batch mit üppigem Frauenpo drauf – der Zutrittpass für einen Club – in der Hand hält er eine Flasche Bier.
Im Rückblick wirkt dieses Foto wie ein Menetekel für Ischgl: Das Bier trägt den Namen «Corona».
COVID-19 Hotspot
Seit Mitte März bekannt wurde, dass sich im Gedränge der Bars Dutzende von Gästen mit Corona angesteckt und das Virus tausendfach in alle Welt hinausgetragen haben, hat Ischgl ein Image-Problem: als COVID-19 Hotspot.
Lois Hechenblaikner hat die Nachricht damals nicht überrascht, aber er betont, dass es genauso gut «jeden anderen Ort hätte treffen können, der ähnlich die Spass- und Freizeitkultur bis zum Exzess zelebriert: Sölden, St. Anton oder Kitzbühl.»
Versagen bei Behörden
Ihn stört, dass nun die Gastwirte in Ischgl am Pranger stehen, obwohl sie nicht gegen das Gesetz verstossen hätten. «Es sind die Behörden, die mit ihrem Zuwarten versagt haben», betont der Tiroler. «Warum hat man nicht bei den ersten Verdachtsfällen reagiert?»
Aber diese «Ballermanns der Alpen» sind nunmal ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Allein Ischgl macht im Jahr einen Umsatz von 250 Millionen Euro.
Kein Wunder bei den Kosten, die an einem ganz normalen Nachmittag in der «Champagnerhütte» anfallen können: Ein Foto zeigt die Quittung von 8'770 Euro für drei Flaschen «Montrachet».
Das für mich wohl widerlichste Bild in diesem Fotoband zeigt einen grinsenden Mann, der mit einer Krücke triumphierend eine aufgeblasene Sexpuppe in die Höhe stemmt.
Aufgenommen hat Hechenblaikner dieses Bild nicht etwa in einem Nachtklub, sondern – wie alle Fotos – im öffentlichen Raum, vor Skiliftstationen und Berglandschaften.
Überdosis Hormone
Beim Betrachten der Bilder wird deutlich, dass Sex und Alkohol vor Ort die wichtigsten Brandbeschleuniger sind. Je mehr Promille, desto tiefer sinken Hemmungen und Niveau.
Hechenblaikner nennt Ischgl im Winter «den grössten hormonellen Schwarzmarkt. Der ideale Nährboden für Fremdgänger, Blindgänger und Draufgänger.»
Er war mittendrin
Lois Hechenblaikner sagt mit seinen Fotos mehr als tausend Worte. Unaufdringlich scheint er sich in diesem Trubel mit der Kamera zu bewegen.
Das Nebeneinander von majestätischer Bergwelt und primitivster Plastik- und Promille-Kultur macht den erschreckenden Reiz seiner Dokumentation aus. «Mich interessiert, wie weit der Geigenzähler noch ausschlägt. Wann beginnt das Ganze – symbolisch gesprochen – durchzuknallen?»
Abgründe des Après-Ski
Dank seiner Fokussierung auf ein Thema hat der Tiroler über die Jahre ein riesiges Bild-Archiv aufgebaut: Niemand sonst hat die Auswüchse unserer Freizeitgesellschaft im alpinen Raum so akribisch dokumentiert wie er.
Allein für diesen «ISCHGL»-Band konnte er aus 9000 Aufnahmen die spektakulärsten Bilder aussuchen. Die Schock-Wirkung bleibt nicht aus: So verdichtet bin ich noch nie den Abgründen der Après-Ski-Kultur begegnet.
Kritik von Daheim
Dass Hechenblaikner mit seiner Arbeit auch aneckt, liegt auf der Hand: Touristiker und Gastwirte werfen ihm jetzt vor, auf dem Buckel von Ischgls Corona-Drama ein Geschäft zu machen. Der 62-jährige Künstler ist Kritik gewohnt und macht klar, dass Fotobücher kaum je rentabel sind.
Genauso locker kontert er die Unterstellung, er überzeichne mit seinen Bildern die reale Situation. «Man muss die Leute emotional ansprechen. Nur so entsteht eine Diskussion. Dieses Buch soll ja auch etwas bewirken.»