Seit ihrer Gründung hat die Organisation «Médecins sans Frontières» eine besondere Beziehung zur Fotografie, sagt Romano Zerbini, Leiter der Photobastei Zürich: «Bei Ärzte ohne Grenzen geht es darum, nicht nur zu helfen, sondern auch zu berichten und Missstände anzuklagen.»
Vor 50 Jahren brachen französische Ärzte, die für das «Rote Kreuz» in Biafra arbeiteten, das Schweigen, zu dem sie im Namen der Neutralität verpflichtet waren. Zusammen mit Journalisten gründeten sie «Ärzte ohne Grenzen» nach dem Grundsatz: Die einen leisten Hilfe, die anderen legen Zeugnis ab.
Die Geschichte der Zusammenarbeit mit der Pariser Fotoagentur «Magnum» dokumentiert nun eine Ausstellung, die beide Organisationen gemeinsam kuratiert haben.
Spielraum für Betrachtung
Ein Rückblick auf die Kriege und Krisen des letzten halben Jahrhunderts könnte schwer erträglich sein. Doch «Magnum» steht nicht für schreiende Titelbilder: «Die Stärke ihrer Arbeit liegt darin, dass sie andere Bilder und Geschichten produzieren, als wir es aus der Tagespresse kennen», sagt Romano Zerbini.
Die Kunst ihrer Fotografinnen und Fotografen besteht darin, Blickwinkel zu finden, die Spielraum für die Betrachtung lassen. Auf einer Fotografie aus Srebrenica etwa, Schauplatz eines furchtbaren Massakers während des Bosnienkriegs, sind nur zwei leere Stiefel auf einem Waldboden zu sehen. Darum liegt verwelktes Laub, kein Zeichen von Leben.
Fotografie zwischen Sensation und Sensibilität
Es bleibt eine Gratwanderung, das Leid anderer durch eine Linse zu betrachten, ohne dabei die Sensationslust zu bedienen. Und die Aufgabe wird nicht einfacher: Seit die Fotoagentur «Magnum» gegründet wurde, hat sich viel verändert.
«Wir haben nicht mehr die ikonischen Bilder, die wir aus den 1950er und 1960er-Jahren kennen. Damals konnten die Kanäle noch kontrolliert werden», sagt Romano Zerbini: «Heute stehen wir vor einer Bilderflut. Wenn wir an die Ukraine denken, bekommen wir die Bilder der Leute vor Ort direkt von ihren Handys.»
Wie können Fotografen heute Missstände dokumentieren, ohne auf das Schockprinzip der Klick-Ökonomie zu setzen? Der zweite Teil der Ausstellung zeigt unterschiedliche Zugänge in sechs aktuellen Bild-Reportagen.
Die Bilder wollen aufklären, ohne zu empören
Fast wie Gemälde wirken Newsha Tavakolians Porträts von vertriebenen Frauen aus dem Kongo. Sie halten ihre Kinder im Arm wie eine Pietà, der Schmerz in ihren Augen ist schwer auszuhalten.
Nicht inszeniert scheinen hingegen die Bilder von Enri Canaj aus einem griechischen Flüchtlingslager, die sich erst im Zusammenspiel als Serie erschliessen: Mitten im staubigen Nirgendwo schläft ein Kind auf dem Boden: als Kopfkissen, ein Stein. Das Bild daneben zeigt eine Familie von hinten am Strand. Es könnte ein Urlausfoto sein, wenn nicht alle bis zu den Bäuchen im Wasser sitzen würden, in voller Bekleidung, den Blick in die Ferne gerichtet.
«Es ist beinahe ein Kunstbild, das dem Betrachter die Interpretation der Geschichte überlässt, eingefügt in einen hochdramatischen Kontext», erzählt Romano Zerbini.
Es sind Bilder, die im Gedächtnis bleiben. Eine lohnende Ausstellung über Fotografie, die aufklären will, ohne auf schnelle Empörung zu setzen.