Mit Vincent van Gogh spazieren gehen oder mit Frida Kahlo Tee trinken: Dank Multimedia und Sound kann man heute Kunst nicht nur betrachten, sondern fühlen, in sie eintauchen. Immersive Ausstellungen boomen.
Doch ob diese Ausstellungen noch Kunst sind, darüber scheiden sich die Geister. Konservative Kunstliebhaber rümpfen die Nase wie Opernliebhaber über Musicals.
Publikum wird Teil des Kunstwerks
Beispiel Lausanne: Die Ausstellung «Immersions. Les origines» im Musée cantonal des Beaux-Arts ist ein Publikumsmagnet. Sie widmet sich den Ursprüngen der immersiven Kunst und zeigt Rekonstruktionen der ursprünglichen Werke aus den 1960er-Jahren.
Hier kann man in einem Meer aus 330 Kilogramm Federn baden oder in eine Höhle aus rosa Schaumstoff schlüpfen. Material, das sonst zum Polstern verwendet wird, verwandelt sich in ein Kunstobjekt mit Barbie-Effekt.
Für Juri Steiner, Direktor des Museums, ist diese rosa Höhle des Künstlers Ferdinand Spindel ein Ort, um neue Kraft zu schöpfen und in sich zu gehen. Denn Kunst zentriert uns neu: «Sie ist nicht immer nur rational, es geht um Gefühle und Erlebnisse. Das ist etwas, das wir mit allen teilen können.» Das Museum solle partizipativ sein und Brücken schlagen für neue Besucherinnen und Besucher.
Skeptiker monieren, immersive Ausstellungen seien nur ein Abklatsch der echten Kunst. Für den Kunsthistoriker Christian Saehrendt ist das bloss «kunsthistorisch angehauchtes Entertainment». Trotz seiner Skepsis ist er für uns in die Ausstellung «Imagine Picasso» in der Zürcher Lichthalle Maag gepilgert.
Der Skeptiker geniesst mit Vorbehalten
Das Spektakel ist eine Reise durch 217 Werke des spanischen Künstlers, projiziert auf Wände und Origami-ähnliche Figuren. Selbstbildnisse und Frauenporträts wechseln sich mit abstrakten Werken aus der kubistischen oder surrealistischen Phase ab – alles da. Ein multimedialer Bilderrausch mit Musikbegleitung. Kunst für alle Sinne.
Schnell wird klar: Auch der kritische Experte ist nicht ganz immun gegen die Freuden des Entertainments. Es sei schön, Kunst im Liegen zu geniessen, so Christian Saehrendt. Die Farbenpracht, das Wechselspiel der verschiedenen Bildmotive und die Animation der Bilder seien faszinierend und durchaus beschwingend. «Ich fühle mich gut unterhalten.»
Saehrendt relativiert aber sogleich: «Das ist eine ideale Freizeitgestaltung, wenn man im Anschluss an den Ausgang noch ein bisschen was Kulturelles mitnehmen will und vielleicht leicht angetrunken ist. Dann ist das eine tolle Ausstellung.»
«Imagine Picasso»-Besucher wie Georg Schlatter sehen das anders: «Es ist fast ein metaphysisches Erlebnis und es erschliesst einem die Genialität von Picasso, wenn man sie vorher nicht begriffen hat.» Besucherin Manuela Rupf ist ebenfalls angetan: «Man erinnert sich an Bilder, die man schon lange kennt, aber vergessen hat und das auf eine neue Art. Es ist sehr lebendig und wunderschön.»
Niveau von Kunst auf Kaffeetassen
Die Superstars der Malerei, inszeniert als leichtverdauliches Spektakel: Christian Saehrendt anerkennt das ästhetische Erlebnis – als Kunsterfahrung aber tauge das nicht. In der immersiven Kunst arbeite man nur mit Reproduktionen, indem man Abbildungen von berühmten Kunstwerken auf Wände und sonstige Gegenstände projiziere.
«Das hat den künstlerischen Effekt oder das künstlerische Niveau von bedruckten Kopfkissenbezügen oder von Kunstmotiven auf Kaffeetassen», sagt Saehrendt. Die überbordende Inszenierung schlage das eigentliche Kunsterlebnis platt.
Kunsterfahrung im klassischen Museum – das ist für den Puristen das Wahre: «Ich finde, die kontemplative Betrachtung von Kunstwerken ist die Essenz von Kunst. Das heisst, die Wertschätzung, sich mit dem einzelnen Werk in Ruhe auseinanderzusetzen, ist für mich die höchste Form von Kunstgenuss.» Alles andere sei nur eine Verwirrung, eine Ablenkung der Sinne.
Kein Ersatz für «richtige» Museen
Die sinnliche Erfahrung ist das Erfolgsrezept der immersiven Shows. Wirken lassen, Fühlen, Eintauchen. Dieses Erlebnis lässt sich Darko Soolfrank, Mitbegründer und künstlerischer Leiter der Maag-Halle in Zürich, nicht vermiesen: «Es ist keine Konkurrenz zu einem klassischen Museum, sondern ein ergänzendes Erlebnis.»
Wann habe man schon die Möglichkeit, über 200 Bilder von Picasso an einem Ort zu erleben? Das letzte Mal sei das vor über 90 Jahren im Kunsthaus Zürich möglich gewesen, «das war revolutionär», so Soolfrank.
Die Picasso-Bilder seien heute vielfach in Privatbesitz und verteilt über die ganze Welt. «Seine Bilder so eindrücklich an einem Ort – wenn auch in einer projizierten Version – zu sehen, das ist einzigartig», findet Soolfrank.
Der Kunsthistoriker Christian Saehrendt hält dagegen: Eine Ausstellung wie «Imagine Picasso» sei wie das «All you can eat»-Buffet im Hotel. «Wer braucht 200 Werke auf einen Schlag zu sehen? Niemand. Es reichen zwei, die man aber liebt und die einem was sagen.»
Hauptsache «Instagrammable»
Die Zahlen sprechen für sich: In der Maag-Halle waren seit 2020 die Blockbuster der Kunstgeschichte in gewaltigen Installationen zu sehen: Vincent van Gogh, Frida Kahlo, Gustav Klimt, Claude Monet – sie ziehen die Massen an. Schon 400’000 Menschen haben die Shows in Zürich besucht.
Das zeige, so Darko Soolfrank, dass die Nachfrage vorhanden sei und dass diese neue Kunstform angenommen werde: «Es ist ‹instagrammable› und ‹tiktokable›. Man darf bei uns fotografieren, liegen und sitzen, die Hemmschwelle ist viel geringer, zu uns zu kommen. Das ist schon sehr ‹heutig›.»
Weltweiter Boom
Der immersive Boom zeigt sich auch anderswo: In Dortmund hat 2023 das Phoenix des Lumières, ein Zentrum für Digitalkunst, eröffnet. In wechselnden Ausstellungen werden Ikonen der Malerei gezeigt, etwa Gustav Klimt oder Friedensreich Hundertwasser. Alle zum Anfassen und Fühlen.
Das neue digitale Kunstzentrum ist ein Ableger des «Atelier des Lumières» in Paris. Neun solcher Zentren für immersive Ausstellungen betreibt das französische Unternehmen Culturespaces inzwischen weltweit, weitere sollen folgen.
Es gibt hier aber nicht nur, was bekannt und beliebt ist, sondern eigens auf die Räume zugeschnittene moderne Digital-Kunst wie die des aufstrebenden Istanbuler Kreativstudios Nohlab.
Es geht um leichte Vermittlung komplexer Inhalte, um mehr Zugänglichkeit und Teilhabe. Eine Ausstellung als ideale Selfie-Kulisse, die immer mehr Junge anzieht. «Es spricht ein Publikum an, das sich abgestossen fühlt von diesem klassischen Bildungsgeruch der Museen», vermutet der Kunsthistoriker Christian Saehrendt. Wer sich lieber von der «Aura des Originals» verzaubern lassen will, ist in den immersiven Ausstellungen falsch.
Antithese zum sterilen Museum
Ketzerisch gefragt: Braucht man die echten Werke überhaupt noch? Man müsse gar nicht unbedingt die Originale sehen, ist Georg Schlatter, Besucher von «Imagine Picasso», überzeugt: «Durch die Vergrösserung und die Dynamik erlebt man die Bilder ganz anders als im Museum. Sie erschliessen sich auf eine Art, wie das im Museum gar nicht möglich wäre.»
Besucher Markus Hardegger, der mit seiner Tochter schon vier immersive Events in der Lichthalle Maag gesehen hat, hält sie für eine zeitgemässe und spannende Form, Kunst zu geniessen: «Nicht wie in einem sterilen Museum, wo es überall heisst ‹pssst› und ‹nicht anfassen›.»
Besucherin Manuela Rupf findet klassische Museen gar «sehr langweilig»: «Zu den Stosszeiten finde ich es unangenehm, wenn es so viele Leute hat. Man kann sich gar nicht wirklich auf ein Bild oder einen Künstler einlassen. Hier hingegen fliesst man mit den Bildern mit, man erlebt es einfach ganz anders.»
Wohin geht die Entwicklung noch?
Ist die immersive Kunst der Todesstoss für die klassischen Museen? Im Gegenteil, meint Darko Soolfrank: «Auch klassische Museen richten heute immersive Räume ein, weil sie gemerkt haben: Da passiert etwas auf der Welt, wir müssen da mitziehen. Das wird nicht mehr verschwinden.»
Das ist auch dem Kunsthistoriker bewusst. Christian Saehrendt geht noch einen Schritt weiter: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass immersive Art-Shows ein längerfristiger Trend sind. Vor allem, weil die technologische Entwicklung immer weiter geht.»
Er sieht in den jetzigen immersiven Ausstellungen nur eine Zwischenstufe auf dem Weg, komplett in die Kunstwelt einzutauchen. Als Nächstes wird man vielleicht mit VR-Brillen durch programmierte Kunstwelten spazieren. «Ein bisschen wie die Metaverse.»
Wie auch immer man zur Kunstbetrachtung stehen mag: Immersive Ausstellungen machen Kultur zu einer alle Sinne ansprechenden Show, die viele begeistert. Ersetzen werden sie den Reiz des «Originalen» wohl trotzdem nicht.