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Japanischer Exportschlager Weltweit im Hype: Warum plötzlich alle Anime schauen

Über die Hälfte der Netflix-User schaut japanische Trickfilme, verkündete das Unternehmen kürzlich. Das sind geschätzt 300 Millionen Zuschauer weltweit – quer durch alle Altersgruppen. Wie erklärt sich dieser Boom?

Dämonenjäger, Kampfroboter oder schatzsuchende Möchtegernpiraten: Die schrillen Comic- und Trickfilmserien aus Japan sind längst Teil der globalen Populärkultur. Mit T-Shirts, Spielkarten, Pokémon-Pyjamas generieren sie Umsätze im Milliardenbereich.

Zwei Personen in Pikachu-Kostümen stehen lächelnd vor einem historischen Gebäude.
Legende: Anime sprengt Grenzen: Menschen aus Europa können sich also genauso einfach mit der Anime-Welt identifizieren wie Menschen aus Südamerika. Wie hier in Uruguay. Getty/Carlos Lebrato/Anadolu Agency

Was auffällt: Nicht nur Kinder und Jugendliche sind begeistert von der Anime-Kultur, sondern auch immer mehr Erwachsene. Laut Statistiken liegt das Durchschnittsalter der Fans bei etwa 25 Jahren – deutlich höher, als man vielleicht annehmen würde.

Was ist Anime?

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Lächelnde Zeichentrickfigur mit erhobenen Fäusten.
Legende: imago images/Everett Collection

Der japanische Begriff «Anime» (アニメ) ist eine Kurzform des englischen Worts «animation» (Animation) und steht im westlichen Raum für in Japan produzierte Zeichentrickfilme. Es existieren weit über 10'000 Serien und 1500 Filme.

Animes decken eine grosse Vielfalt an Inhalten ab – mit über 40 anerkannte Haupt- und Subgenres, darunter zum Beispiel «Mecha» (Riesenroboter), Psychological (innere Konflikte) oder «Slice-of-Life» (alltägliche Geschichten). Oft basieren sie auf «Mangas» (japanische Comics).

Die ersten Animes entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die erste populäre Anime-TV-Serie war «Astro Boy» von Osamu Tezuka, die ab 1963 ausgestrahlt wurde. Anime sind meist an ihrem typischen und einzigartigen Zeichenstil (grosse Augen, kleine Nasen, bunte Haare, lange Beine) erkennbar.

Geschichten ohne Grenzen

Gründe für die jährlich wachsende Popularität gibt es viele. Einer sticht heraus: Identifikation. «Die unglaubliche Vielfalt an Genres und Themen sprechen ein grosses Publikum an», erklärt Anime-Experte Malte Frey. Er doktoriert an der Kunstakademie Münster zu dem Thema. Kommt hinzu, dass «Anime eine staatenlose Qualität haben können. Im Gegensatz zu Realfilmen und -Serien, die durch Drehort, Sprache und bestimmte Personen meist spezifisch verortet werden können, lassen Anime Anknüpfungspunkte für die ganze Welt zu.» 

Japanische Trickfilme waren schon in den 1970er und -80er-Jahren im Ausland populär. Im deutschen TV liefen «Captain Future», «Heidi» oder «Mila Superstar». Raumschiffe, heile Bergwelt, Volleyball – das traute man westlichen Kindern und Jugendlichen zu.

Stereotypen, die die allgemeine Vorstellung von Anime bei uns bis heute prägen: «Anime wird leider oft nur als Popkultur, als seichte Unterhaltung ohne Gehalt wahrgenommen. Ich bin es gewohnt, dafür zu argumentieren, dass Anime viel mehr sein darf und auch ist», sagt Frey.

Denn zur selben Zeit schienen in Japan der inhaltlichen Kreativität keine Grenzen gesetzt: Umweltzerstörung («Nausicaä aus dem Tal der Winde»), weinende Auftragskiller («Crying Freeman») oder Musik als Waffe («Macross») waren Themen erfolgreicher Serien in den 1980er-Jahren. Via VHS, DVD und später Filesharing fanden die Geschichten schon bald auch im Westen ein begeistertes Nischenpublikum. Heute erreichen sie dank Streaminganbieter wie Crunchyroll oder Netflix die Massen.

Diese populären Animes sollten sie kennen

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Attack on Titan
Die Menschheit lebt hinter riesigen Mauern, um sich vor menschenfressenden Titanen zu schützen. Der junge Eren Jäger schwört Rache, als ein Titan seine Heimat zerstört – und entdeckt ein dunkles Geheimnis über sich selbst und die Welt.

Naruto
Naruto Uzumaki, ein Aussenseiter will der grösste Ninja seines Dorfes werden. Dabei wächst er an Freundschaft, Feinden und seinen inneren Kämpfen.

One Piece
Monkey D. Luffy ist ein junger Pirat, der nach dem legendären Schatz «One Piece» sucht. Mit seiner bunten Crew segelt er durch gefährliche Meere und stellt sich mächtigen Gegnern – auf der Suche nach Freiheit und dem grössten Abenteuer.

Die Tagebücher der Apothekerin
Im alten kaiserlichen China arbeitet die junge Waise Maomao als Apothekerinangestellte am Hof, wo sie heimlich medizinische Rätsel und politische Intrigen löst. Der Anime verbindet kluge Kriminalfälle mit sozialer Kritik, zeigt Machtspiele und die Stellung der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft.

The Tatami Galaxy
Ein Student erlebt immer wieder verschiedene Versionen seines Collegelebens – jedes Mal mit anderen Clubs, Freunden und Ergebnissen. Ein philosophischer Blick auf Entscheidungen, Reue und das Streben nach einem „perfekten“ Leben.

Death Note
Ein hochintelligenter Schüler findet ein Notizbuch («Death Note»), mit dem er Menschen durch das Aufschreiben ihres Namens töten kann. Er will eine bessere Welt schaffen – doch ein ebenso genialer Ermittler stellt sich ihm in den Weg.

Neon Genesis Evangelion
Jugendliche müssen in riesigen Mecha-Robotern gegen mysteriöse «Engel» kämpfen. Doch hinter der Action steckt ein vielschichtiger Blick auf Trauma, Depression, Identität und den Sinn des Daseins. Ein Meilenstein psychologischer Science-Fiction.

Fullmetal Alchemist: Brotherhood
Zwei Brüder nutzen verbotene Alchemie, um ihre verstorbene Mutter zurückzubringen – und verlieren dabei ihre Körper. Rückgängig machen können sie das nur mit dem «Stein der Weisen». Ihre Reise, diesen zu finden, führt sie zu moralischen Fragen über Menschlichkeit, Macht und Opfer.

Brotback-Animes

Aber wie vielfältig oder verrückt sind Animes wirklich? Ein Brotback-Anime? Gibt es – mit «Yakitate!! Japan». Eine alternative Welt, in der Panzerfahren ein beliebter Frauensport ist? Gestatten: «Girls und Panzer». Ein Waisenhaus, das eigentlich eine Zuchtfarm für Menschenfleisch ist? «Promised Neverland».

Die Geschichten sind nicht alle gut. Aber die Innovationskraft und der Mut zu Neuem ist spürbar. «Ausserdem befassen sich viele Animes mit sehr philosophischen Fragestellungen: Wie sieht eine Gesellschaft aus, wenn Technologie herrscht? Welche Rolle kann Pazifismus spielen? Was bedeutet Menschsein?», erklärt Malte Frey.

Anime-Figur im Winter, ernst blickend, mit blutigem Gesicht.
Legende: Nach anfänglicher Zurückhaltung stieg Netflix erst spät in den Anime-Hype ein. Eigenproduktionen wie «Blue Eye Samurai» zeigen, wie ernst das Unternehmen das Genre inzwischen nimmt. Netflix

Diese Kreativität weiss auch Hollywood zu schätzen. «Viele Hollywood-Filme sind tatsächlich von Animes inspiriert. ‹Black Swan›, ‹The Matrix›, ‹Inception› – um nur einige zu nennen», so Frey. Was viele nicht wissen: Disneys Welterfolg «Der König der Löwen» hat verblüffende Ähnlichkeiten mit einer Anime-Serie aus den 1960er-Jahren. Dort heisst der kleine Löwe nicht «Simba», sondern «Kimba».

Heute braucht es wohl kein Hollywood mehr, um die Anime-Ideen im Westen zu verkaufen. Die Menschen schauen mindestens so gerne Animes – wie die Streamingzahlen zeigen.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Nachrichten, 8.7.2025, 16:30 Uhr

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