- Die Künstlerin Helen Marten arrangiert in ihren Installationen vorgefundene Materialien. Aus Maschinenteilen, Schuhsohlen oder Schlangenhäuten macht sie variationsreiche Alltagspuzzles und Vexierbilder .
- Martens Werk sei exemplarisch für die aktuelle Qualität der Kunst auf der Insel: Sie spreche den Betrachter nicht aufdringlich an, sondern indirekt und verführerisch .
- Der Turner-Preis war von Anfang an auf Provokation programmiert. Lange stand und fiel sein Ansehen mit den von ihm ausgelösten Kontroversen. Seine wilden Jahre sind aber vorbei.
- Bei den Reden wurde die Wichtigkeit des Preises betont. Der Turner-Preis sei ein Leitmedium britischer Weltoffenheit , sagte der Tate-Direktor Sir Nicholas Serota.
Maschinenteile, Schuhsohlen, Schlangenhäute und vieles mehr – daraus baut die diesjährige Turner-Preis-Gewinnerin Helen Martin ihre Installationen. Das gefundene Material kombiniert sie dabei zu variationsreichen Alltagspuzzles und Vexierbildern, die zum Nacherzählen animieren. Für ihre Kunst wurde sie im November bereits mit dem erstmals vergebenen britischen Hepworth-Preis für Skulptur ausgezeichnet.
Facettenreich und subtil
«Ihre 25'000 Pfund Siegprämie hat Marten absolut verdient» sagte der Vorsitzende der Jury, Tate-Britain-Direktor Alex Farquharson. Martens Werk sei exemplarisch für die aktuelle Qualität der Kunst auf der Insel: «Sie spricht den Betrachter nicht aufdringlich an, sondern indirekt und verführerisch. Statt auf Affront und Statement setzt sie auf Facettenreichtum und Vielschichtigkeit, Sinnlichkeit und Subtilität. Und sie bleibt – trotz aller Rätselhaftigkeit – zugänglich und nacherlebbar.»
Kunst als Schlüssel für die Zukunft
Überreicht bekam Helen Marten den Turner-Preis von dem nigerianischen Schriftsteller Ben Okri. Er sprach in seiner Laudatio von dem «träumerischen, völkerverständigenden Potenzial der Künste».
Einen deutlich politischen Akzent setzte der 2017 scheidende Direktor der Tate-Galerien, Sir Nicholas Serota, in seiner Ansprache. Vor dem Hintergrund der Brexit-Verhandlungen und drohender Etatkürzungen in der britischen Bildungs- und Kulturpolitik plädierte er für die Förderung der Kreativindustrien als «Schlüssel für die Zukunft». Der Turner-Preis, so Serota, sei auch das: ein Leitmedium britischer Weltoffenheit.
Programmiert auf Provokation
Aufgefallen ist der Turner-Preis in den letzten Jahren aber vor allem durch Provokation. Bereits 2015 sorgte das Rennen um die mit insgesamt 40'000 Pfund dotierte Kunsttrophäe für reichlich Wirbel. Erstmals seit dem Debüt des Turner Prize 1984 wurden nicht nur einzelne Künstlerinnen und Künstler gewürdigt, sondern ein Team von Kreativen: das 18-köpfige Architektur-Kollektiv «Assemble».
Schon die Nominierung der Gruppe war auf massive Kritik gestossen, und sogar der Leitartikler des liberalen Guardian empörte sich nach der Preisvergabe: «Designer, die in Liverpool Häuser renovieren: Das soll Kunst sein? Hier ging die Jury dann doch zu weit!»
Aber genau darum ging es beim Turner-Turnier schon immer. Der Wettbewerb war von Anfang an auf Provokation programmiert, und lange stand und fiel sein Ansehen mit den von ihm ausgelösten Kontroversen.
Die wilden Jahre sind vorbei
Allerdings: Seine wilden Jahre unter der Dominanz der «Young British Artists» hat der «Turner» längst hinter sich gelassen.
Haie und zerlegte Rinder und Kälber in Formaldehydtanks (Damien Hirst/1995), Gemälde aus Elefantendung (Chris Offili/1998), Tracey Emins zerwühltes Bett (1999): Derlei effekthaschende «Shock Art» hat in den Galerien der Tate Britain seither ebenso Seltenheitswert wie Anti-Konzeptkunst-Demos vor dem Museum.
«Physische Erfahrbarkeit des Visuellen»
Und doch ist die diesjährige Kandidatenschau recht spektakulär und provokativ, wie auch die Kunstwerke der anderen drei nominierten Künstler Anthea Hamilton, Josephine Pryde und Michael Dean zeigen.
Für «Project for a Door» hat sich Anthea Hamiltons einen ursprünglich für einen New Yorker Hauseingang vorgesehenen Architekturentwurf surrealistisch angeeignet – nach dem Vorbild René Magritte: Ein überdimensionaler, von zwei Händen gespreizter Männerhintern bricht aus einer Ziegelwand hervor. Hamilton gehe es, heisst es im Begleittext, um die «physische Erfahrbarkeit des Visuellen».
Verspieltes zeigt Josephine Pryde (49), die Älteste unter den vier Finalisten. Sie wurde unter anderem nominiert für ihr Werk «The New Media Express in a Temporary Siding (Baby Wants To Ride)». Zu sehen ist der «Neue Medienexpress», eine mit Graffiti besprühte Modelleisenbahn, bereit zur nächsten Reise – auf dem Abstellgleis.
Landschaft mit Buchstaben
Bildhauerisch arbeitet Michael Dean. Unter dem Obertitel «Shores» («Küsten») zeigt er in der Kandidatenschau Figurenensembles, deren Einzelstücke sich bei genauem Hinsehen als Buchstaben zu erkennen geben.
Deans «Alphabet» – gefertigt aus Holz, Stahl, Lehm, Muscheln und Münzen – suggerieren zweierlei: die Topografie der Sprache und die Typografie der Natur.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kulturnachrichten, 6.12.16, 06:00 Uhr