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Libuna hält ein Mädchen im Arm
Legende: Aus der Serie «Libuna», Prag, 1978 Aus der Serie «Libuna», Prag, 1978

Kunst 30 Jahre in Prag: Iren Stehlis Langzeitablichtung einer Roma

Die Schweizer Fotografin Iren Stehli hat das Leben von Libuna Sivakova in Prag 30 Jahre lang begleitet. Entstanden ist die einzigartige Langzeitstudie einer Roma-Frau. Die Bilder sind derzeit in einer Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz zu sehen.

Als Iren Stehli nach der Matur 1974 nach Prag reist, gibt es die Tschechoslowakei noch. Dass sie zehn Jahre in Prag bleiben wird, ist der Schweizerin bei dieser Reise noch nicht klar. Aber die Melancholie und der oft triste Alltag im real existierenden Sozialismus faszinieren sie: die skurrile Zeichensprache in den mageren Schaufenster-Auslagen, die schäbigen Buffets und Kneipen und der Zerfall. Aber trotzdem war da eine grosse unterschwellige Lebenslust. All das will sie fotografisch festhalten.

Intensiv gelebte Emotionen

In einem kleinen Zimmer steht eine Frau vor dem Spiegel, ein Mann liegt daneben im Bett und schaut lächelnd zu.
Legende: Aus der Serie «Libuna», Prag, 1977 Iren Stehli / ProLitteris

Iren Stehli beginnt an der Prager Filmakademie Fotografie zu studieren und lernt Libuna kennen. Libuna, eine 19-jährige Roma-Frau, putzt mit ihrer Mutter im Studentenheim, in dem die Schweizer Fotografin wohnt. Libuna will sich von Iren Stehli fotografieren lassen. Und so fängt alles an: Iren Stehli wird Libuna bis zu deren frühem Krebstod 2009 mit der Kamera in der engen Einzimmer-Wohnung besuchen.

Stehli fühlt sich magisch angezogen. «Sie war noch so mädchenhaft, hatte aber schon eine Familie», erinnert sich die Fotografin. «Die Begegnung mit ihr eröffnete mir eine neue Welt: eine Welt voller intensiv gelebter Emotionen.»

Radikales Anderssein

Ausstellung

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«Iren Stehli – So nah, so fern» vom 8. März bis 25. Mai 2014 in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur. Die Ausstellung zeigt neben «Libuna» weitere Projekte, die die Fotografin seit 1974 realisiert hat.

Iren Stehli dokumentiert dieses radikale Anderssein: die Armut, die Eheprobleme, ein Mann, der zweimal ins Gefängnis muss; die beiden Töchter, die mit 16 Jahren selbst Mütter werden. Ein Leben wie ein Roman mit immer neuen Wendungen, das Libuna meistert. «Sie ist der Tradition der Roma treu geblieben, in welcher der Mann nach aussen hin das Sagen hat, obwohl Libuna eine ganz und gar selbständige Frau ist, voller Selbstbewusstsein und Überlebenskraft », erzählt Iren Stehli.

Nah und unsentimental

Auch als Iren Stehli 1983 in die Schweiz zurückkehrt, weil ihre Aufenthaltsbewilligung nach dem Studium nicht mehr erneuert wird, besucht sie Libuna regelmässig. Die Roma ist längst zur Freundin geworden, und Iren Stehli wird Gotte von Libunas jüngster Tochter und des Sohnes. Trotz Nähe und Anteilnahme bleibt Stehli in ihrer fotografischen Arbeit unsentimental. Im Mitleid zerfliessen will sie nicht, obwohl die Armut in Libunas Leben immer wieder gross ist.

Aus Ordnung wird Verwahrlosung

Entstanden ist eine berührende Geschichte in Schwarz-Weiss-Bildern. In der Lebensgeschichte einer Roma-Frau in Prag widerspiegeln sich auch die politischen Umwälzungen in der Tschechoslowakei, die samtene Revolution und die Demokratisierung Tschechiens.

Die Jobs, die der Sozialismus garantiert hat, sind weg, neun von zehn Roma sind ohne Arbeit, die Sozialleistungen werden gekürzt, die Gewaltbereitschaft gegenüber den Roma wächst. Sind im Zimmer und der Küche in den 1970er- und 80er-Jahren trotz Armut Ordnung und Ästhetik spürbar, nehmen nach 1989 das Chaos und eine Art Verwahrlosung Überhand.

Bereits 2004 hat Iren Stehli die Schwarz-Weiss-Fotografien im Buch «Libuna» veröffentlicht. Libuna habe sich sehr über dieses Buch gefreut, erzählt Iren Stehli, und sie habe ihr gesagt: «Du hast mein Leben porträtiert, so wie es war.»

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