Frühmorgens in der Oberstufe Wädenswil in einer zweiten Sekundarklasse: Julian Germain ist auf seinem Arbeitsterrain. Während die Schüler emsig ihren Schulaufgaben nachgehen, bereitet er sich auf sein erstes Schweizer Klassenporträt vor. Die Beleuchtung muss stimmen – und auch für seine Hasselblad-Kamera muss Germain ein geeignetes Plätzchen im Klassenraum finden.
Eine halbe Stunde später ist alles Technische geregelt. Nur in sein Sujet – die Schulklasse – muss noch ein wenig Ordnung gebracht werden. Germain verschiebt da und dort ein paar Schüler, lässt sie aufstehen oder absitzen, verändert ein wenig das Interieur des Klassenraums – und fertig ist die perfekte Klassenpose für das Porträt.
Die Schüler blicken nun alle konzentriert in die Linse. Eine Minute später ist es vollbracht: ein weiteres Klassenfoto für Germains globale Sammlung. Sein Eindruck der Schweizer Schüler ist ganz dem Klischee entsprechend: fleissig, ruhig und perfekt organisiert.
Klassenfotos als Abbilder der Gesellschaft
Seit über 10 Jahren macht Julian Germain Klassenfotos. Über 20 Länder hat er schon bereist. Darunter Peru, Jemen, Katar, Taiwan, die Niederlande und auch sein Heimatland England. Dabei hat er über 450 Klassen fotografiert. Eine Auswahl davon hat er in seinem Fotoband «Classroom Portraits» veröffentlicht.
Das Schulzimmer ist fast immer der Rahmen des Portraits. Diese Gleichförmigkeit ermöglicht den Vergleich: Gesellschaftliche, soziale und auch ökonomische Unterschiede werden sichtbar. Denn die Klassenbilder sind auch immer Abbild der jeweiligen Kultur.
Die Geschichten stecken im Detail
Die Fotos ermöglichen jedoch nicht nur den gesellschaftlichen Vergleich. Beim genaueren Betrachten fallen einem viele kleine Details auf, die Geschichten über die Klasse und die einzelnen Schüler erzählen. Freundschaften, Lieblingsspielzeuge, aber auch Launen entdeckt man auf den Fotos. Germain liebt diese Details, sie machen für ihn den künstlerischen Wert der Fotos aus.
Den Sinn von «Classroom Portraits» sieht Germain auch darin, dass sich das Projekt in gewisser Weise um die Zukunft dreht. Diese Kinder seien die Erwachsenen der Zukunft, sagt er. Mit den Fotos möchte er ein Verantwortungsgefühl gegenüber der heutigen Jugend beim Betrachter auslösen. Und auch hier unterstützt die Form das Ziel: Beinahe auf jedem Foto ist der Blick der Kinder direkt auf die Kamera und damit auf den Betrachter gerichtet. Der Betrachter fühlt sich direkt angesprochen.
Andere Länder, andere Sitten
Bei seinen Reisen in fremde Schulzimmer hat Julian Germain viel Erstaunliches erlebt. Beispielweise in Taiwan, wo er eine schlafende Klasse und auch eine Klasse mit Hund als Klassentier antraf. Für ihn ein grosser Kulturschock. Und der bleibt auch bei seinem Besuch in der Schweiz nicht aus.
Auf der zweiten Station seiner Reise in der Schweizer Schullandschaft, in einem 10. Schuljahr in Pfäffikon, entdeckt er eine Kuriosität. In einer Holzvorrichtung auf dem Lehrerpult sind alle Mobiltelefone der Schüler in gewohnter Schweizer Manier schön säuberlich eingeordnet. «So etwas habe ich noch nie gesehen. Sehr seltsam!», meint Germain. Mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht verschiebt Germain die Vorrichtung, damit sie im Klassenfoto später auch schön inszeniert ist. Da ist es wieder, das kleine Detail, das Germain so am Herzen liegt und das doch einiges über die Gesellschaft, in der die Kinder aufwachsen, erzählt.