Wie sind Sie auf die Frau gestossen, auf der Ihre Skulptur «Sleeping Woman» (2012) basiert?
Charles Ray: Ich sah sie bei einem Spaziergang auf der Strasse. Die Frau schlief sehr tief, und ihre Form war wie ein Berg, wie Geologie. Man konnte sie nicht wecken. Was immer sie auf die Strasse gebracht hatte, sie war sehr menschlich, sehr schön. Ich sah: Im Schlaf sind wir alle gleich, wir gehen an denselben Ort.
Entspricht die Tiefe des Schlafes dem Gewicht der Skulptur?
Ja, das könnte eine Analogie sein. Aber mir geht es mehr um die skulpturale Wahrnehmung als um eine inhaltliche Bedeutung.
Aber sind Ihre Skulpturen nicht sehr narrativ?
Es gibt immer Aspekte der Skulptur, die Geschichten erzählen. Die schlafende Frau zum Beispiel: Je nach Ort erzählt sie eine andere Geschichte. Fehlt die gegenwärtige Gesellschaftsdebatte um Obdachlose, geht es einfach nur um den Schlaf.
Aber der verunfallte Wagen «Unpainted Sculpture» (1997, siehe Bildergalerie), ist doch sehr narrativ, fast theatralisch!
Okay, aber auch da geht es um etwas anderes. Es geht nicht um die Geschichte des verunfallten Autos. Der Totalschaden dient eher als Gegenpol zur Perfektion, mit der das Auto im Atelier wieder zusammengebaut wurde.
Inwiefern basieren Ihre Ideen auf Geschichten?
Es heisst, in den Bergen von Los Angeles solle man sich nicht bücken – wegen der Gefahr von Berglöwen. Eines Morgens, als ich in den Bergen wandern ging, musste ich meine Schuhe binden. Ich bückte mich und dachte sofort an die Berglöwen. Da kam mir ein Geist in den Sinn, der versucht, sich die Schuhe zu binden. Es war eine einfache, alberne Idee, die sich in mein Bewusstsein schlich, die dann zu dieser Skulptur «Shoe Tie» (2012) wurde. Es braucht keine genialen Ideen – die Skulptur ist meist besser als die Idee.
In Ihrer Arbeit geht es immer wieder um Massstab und Grösse: Ihre Skulpturen sind zwar massiv, wirken aber fast zerbrechlich.
Die Skulptur «Boy with Frog» (2009), die ich für die Spitze der Punta della Dogana in Venedig konzipierte, musste gross genug sein, um ihren Platz zu behaupten. Ich hatte Schaumstoffmodelle, um die Grösse auszuprobieren. Alle sagten, es wäre toll, wenn man die Skulptur vom Markusplatz aus sehen könnte.
Als ich dann nach Hause flog, dachte ich: Wenn ich die Skulptur 150 Meter gross mache, könnte man sie vom Flughafen aus sehen. Und wenn sie noch grösser wäre, sähe man sie vielleicht von Mailand aus – es hatte keine Bedeutung mehr.
Ich kehrte zurück, dachte über das richtige Grössenverhältnis nach und machte den Jungen genau gross genug, damit er sich behaupten konnte. Die Grösse des Jungen liegt nämlich in der Distanz zwischen dem Auge und dem Frosch.
Das Verhältnis zwischen Gesicht und dem, was er in der Hand hält, macht also die Grösse aus?
Ich versuchte es auch in Lebensgrösse, doch das ging nicht, weil man dann sofort schützend seinen Mantel über den Jungen werfen oder ihn vor dem Wasser retten will. Die Grösse einer Skulptur soll nicht bequem sein.
Viele Leute sagen über «Aluminum Girl» (2003), dass sie zu klein sei und fragen mich, was passiert ist. Sie war ein kleines Modell und das Material ist etwas geschrumpft, aber der Punkt ist: Es geht nicht um die reale Person, sondern um dein Verhältnis zur Skulptur. Man sollte mit der Grösse ein bisschen kämpfen müssen, es sollte nicht zu einfach sein. Es ist nicht wie: «Hier hast du ein Stück Kuchen, da kannst es haben.» Es ist mehr: «Will ich diesen Fisch und wie koche ich ihn?» Man muss seinen Weg zur Skulptur finden.