Chandigarh ist eine völlig untypische indische Stadt. Sie ist in Sektoren gliedert, streng nach Funktionen getrennt: hier Wohnen, da Arbeiten, dort Erholen, dazu viel Platz für den Verkehr.
Als Kontrast zu dieser funktionalen Struktur: das Regierungsviertel mit dem monumentalen Justizpalast, dem Parlament, dem Ministeriengebäude. Diese sind räumlich so angeordnet, dass sie die Trennung von Judikative, Legislative und Exekutive symbolisieren: Demokratietheorie in Form von Architektur.
Ein Magnet für Schweizer Fotografen
Geplant hat Chandigarh der Schweizer Architekt Le Corbusier. 1951 – Indien ist seit kurzem unabhängig – erhält er den Auftrag, eine Hauptstadt für den neu entstandenen Gliedstaat Punjab zu entwerfen. In Chandigarh verwirklicht Le Corbusier seine Vision einer perfekten Stadt.
«The City Beautiful» nennen die rund eine Million Einwohner ihre Stadt. Im Vergleich zu anderen indischen Städten ist Chandigarh ruhig und sauber.
Chandigarh hat seit den 1950er-Jahren viele Architekturfans in seinen Bann gezogen. Auch Schweizer Fotografen pilgerten nach Indien, um das städtebauliche Experiment mit ihren Kameras einzufangen.
Zum 50. Todestag des Architekten widmet das Centre Le Corbusier in Zürich den Reportagen aus Chandigarh eine Ausstellung. Zu sehen sind etwa Bilder der bekannten «Magnum»-Fotografen Ernst Scheidegger und René Burri.
Eine Stadt offenbart Le Corbusiers Wesen
Am meisten Raum nimmt der Zürcher Fotograf Jürg Gasser ein, der 1968 erstmals nach Chandigarh reiste. Was ihn damals beeindruckte, war «die Grösse, die Weite, die Dimension, in der Le Corbusier dachte.»
Chandigarh zeige das Wesen Le Corbusiers, das ziemlich widersprüchlich gewesen sei, meint Gasser: «Er war nicht nur der Rationalist, der die Wohnmaschine erfunden hat, der Paris abreissen und völlig neu aufbauen wollte. Das war er auch. Aber seine Werke hatten immer auch Poesie.»
Dieser Poesie war Gasser 1968 mit der Kamera auf der Spur. Er dokumentierte Chandigarh in zahlreichen Schwarz-Weiss-Fotografien und zeigte sie im Centre Le Corbusier. Einige dieser Bilder sind nun auch Teil der aktuellen Ausstellung.
Von der indischen Realität eingenommen
Den alten, grossformatigen Bildern stellt der Fotograf neue Aufnahmen gegenüber. Diese entstanden bei seinem jüngsten Besuch in Chandigarh vor einem Jahr. Sie zeigen, wie sich die Stadt in fast 50 Jahren verändert hat.
«Alles hat mehr Patina», erzählt Gasser. «Der Monsun nagt am Beton.» Für aufwändige Renovationsarbeiten fehlt das Geld. Gewisse Ideen Le Corbusiers scheiterten auch an der indischen Mentalität. Sein ausgeklügeltes Verkehrskonzept etwa, in dem er die Strassen nach Fahrzeugtyp und Geschwindigkeit kategorisierte, wird kaum eingehalten.
Auf der Suche nach den Motiven seiner alten Fotos stellte Gasser fest, dass kaum ein Haus mehr so aussieht wie früher: «Die Besitzer haben aufgestockt, angemalt, Schmiedeeisen montiert. Wo frische Luft zirkulieren sollte, sind Reklametafeln angebracht.» Die indische Realität hat die Stadt nicht nur eingeholt, sondern richtiggehend überrollt, sagt Gasser.
«Le Corbusier könnte stolz sein»
Beiträge zum Thema
Weil die Bevölkerung stark wuchs und die Mieten stiegen, entstanden Slums am Stadtrand. Gasser will mit Le Corbusier dennoch nicht zu hart ins Gericht gehen: «Gewisse Dinge funktionieren besser, andere weniger. Aber das ist nicht nur das Verdienst oder die Schuld des Architekten, sondern der ganzen Gesellschaft, die dort lebt.»
Chandigarh sei eine der besten und interessantesten indischen Städte, bilanziert Gasser. Es sei ein lebendiger Ort mit Märkten und Festen, Rosengärten und einem Vergnügungspark am See; eine Stadt, in der die Menschen gerne leben. Die Vision des Architekten funktioniere heute noch, so Gassers Fazit: «Le Corbusier könnte stolz sein auf seine Stadt.»