Was er sehe, sei nicht entscheidend für seine Kunst, sagte Picasso. «I don't paint things the way I see them, but the way I think them.» Ähnliches könnte man über Pina Dolce sagen. Denn was sie nicht sieht, ist für ihre Kunst nicht relevant. Sie malt, stellt Videos her und fotografiert. Die blinde Künstlerin lässt sich auch gerne fotografieren und schreibt Gedichte. Entsprechend ungern hört Pina Dolce den Ausdruck «Behinderung» – vor allem, wenn es um ihr kreatives Schaffen geht. Vermutlich wäre sie auch als Sehende Künstlerin geworden.
Politisch motivierte Performances
1968 wird Pina Dolce als Kind italienischer Einwanderer in Basel geboren. Von Geburt an leidet sie am Grünen Star und kann nur auf einem Auge sehen. Mit 15 Jahren erblindet sie vollständig. In einer kunstorientierten Therapieausbildung entdeckt sie darauf ihre Liebe zum Malen und entwickelt sich mehr und mehr zur Künstlerin.
Sie zieht nach Boston, wo ihr künstlerischer Ausdruck nochmals stark geprägt wird. In Boston nennt man sie «the swiss activist», weil sie regelmässig in politisch motivierten Kunst-Performances auftritt, etwa mit Bodypainting, gegen die Todesstrafe oder als «condom bride» am Weltaidstag. Es folgen Ausstellungen, multidimensionale Rauminstallationen und weitere Performances.
Nach drei Jahren in Amerika kehrt Pina Dolce mit einem «Bachelor of Arts» in die Schweiz zurück und setzt den eingeschlagenen Weg fort. Sie sucht die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, im Speziellen mit dem Fotografen Hugo Jaeggi. «Pina Dolce hat eine unkonventionelle Lebenseinstellung, sie denkt und lebt ohne Tabus», sagt der Basler Fotograf. «Ich fotografiere sie nun seit vielen Jahren, wobei ich dieses Projekt nicht als visuelles Gedächtnis für Pina sehe, schon gar nicht für ihre Blindheit. Der Antrieb ist unsere künstlerische Verwandtschaft, ein gegenseitiges Vertrauen.»
Beratung in der Führung blinder Menschen
Ab 1997 beginnt Pina Dolce an der Universität Freiburg pädagogische Psychologie, politische Philosophie, Ethik und Umweltwissenschaft zu studieren. Gleichzeitig engagiert sie sich zunehmend in der Kunstvermittlung. Sie ist dabei, als die «Blinde Kuh» projektiert wird, das weltweit erste Restaurant, in dem man im Dunkeln speist und von blinden Menschen bedient wird. Sie ist Akteurin in der «Bar dans le noir» in Bern, beim Projekt «Zugang für alle» und auch an der Expo 2002 in ein Kunstprojekt mit Blinden.
Heute berät sie regelmässig Museen für Führungen blinder Menschen und veranstaltet Kurse. Seit 1999 ist Pina Dolce verheiratet und seit 2009 Mutter eines Sohnes.
Perspektive der Wahrnehmung
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Pina Dolce sagt: «Blind sein bedeutet nicht, nichts zu sehen. Es bedeutet, anders zu sehen.» Die Dunkelheit ist für sie ein geschützter Raum, der die Möglichkeit bietet, darin etwas Neues zu sehen. Ihre Kunst zielt auf eine sinnliche Wahrnehmung, die auch Sehende ihren Blick hinterfragen lässt. Was sehe ich oder was glaube ich zu sehen? Was sehen andere? Was ist Realität, was Vorstellung?
Als Kunstmalerin arbeitet Pina Dolce mit «konventionellen» Techniken, aber auch mit taktilen Materialien wie Sand oder Kichererbsen. Der Betrachter – oder Betaster – geht auf eine Sinnesreise, es entsteht ein mehrdimensionaler Raum, unabhängig von Sehen und Nichtsehen.
Eine dreidimensionale Textur
Kunsthistorikerin Janine Schmutz, Leiterin der Kunstvermittlung in der Fondation Beyeler, kennt Pina Dolce und ihr Schaffen. «Ihre Arbeiten überzeugen durch ihre farbliche Lebendigkeit und Expression, wobei die leuchtenden Farben die Grenze zwischen Sicht- und Spürbarem überwinden und ihre Präsenz raumgreifend wird», sagt sie.
Speziell sei auch die Arbeitsweise mit zusätzlichen Materialien, wie Sand oder Salz, die Pina Dolce mit den Farben mischt und mit den Händen auf den Bildträger aufträgt. «Das verleiht ihnen eine dreidimensionale Textur, die noch von der Energie ihres Herstellungsprozesses zeugt», sagt Schmutz.
Pina Dolce lebt das Leben einer Künstlerin, mit ihrem Lebenspartner, dem Ethnobotaniker Urs Hodel, und ihrem Sohn Viviano lebt sie aber auch ihr ganz normales Familienglück. Mit ihrem Sohn Viviano verbindet sie eine besonders intime Dimension der Wahrnehmung.
Die Beziehung als blinde Mutter zu ihrem sehenden Kind ist für sie eine grosse emotionale Herausforderung. Denn ein Bild oder Foto nicht zu sehen, ist das eine. Den eigenen Sohn nicht sehen zu können, sagt Pina Dolce, das sei eine ganz andere Geschichte.