«Huai He - Alles im Fluss»: Der Titel der Ausstellung von Andreas Seibert in der Fotostiftung Winterthur klingt wie eine buddhistische Weisheit. Doch er ist wörtlich zu nehmen. Denn der chinesische Fluss, etwa gleich lang wie der Rhein, wird von einem munter sprudelnden Bächlein schon bald zu einer hochgiftigen Kloake.
Fluss voller Müll
Ungeklärte Industrieabwässer, Siedlungsabwässer, Müll, alles landet im Huai He. Er ist keine Lebens- , sondern eine Todesader. Denn seine Anwohner leiden an mysteriösen Krankheiten. Das Grundwasser, das viele Menschen direkt in ihre Brunnen pumpen, ist verseucht. Ganze Dörfer werden zu «Krebsdörfern», weil ein Grossteil der Bewohner an Krebs erkrankt.
Der Schweizer Fotograf Andreas Seibert, der seit rund 15 Jahren in Tokyo lebt, dokumentiert seit Jahren die Folgen des rasanten Wirtschaftswachstums in China. Sein Porträt des Flusses Huai He ist der jüngste Teil dieser Arbeit. Begonnen hat Andreas Seibert mit einer viel beachteten Dokumentation der Existenzbedingungen von Abermillionen chinesischer Wanderarbeiter.
Unauffällig fotografiert
Andreas Seibert fotografiert mit der analogen, diskreten Kleinbildkamera, die es ihm leicht macht, sich in China als unverdächtiger Amateur zu bewegen; und er setzt nicht auf spektakuläre, plakative Bilder. Seine Farbaufnahmen zeugen von einer stillen, schon fast unheimlichen Intensität der Beobachtung, die sich auch der gründlichen Recherche im Vorfeld verdankt. Hier weiss einer, wo er hinschauen muss.
Seiberts Porträt des Flusses Huai He lebt von der Spannung zwischen verschiedenen Bildsträngen: Da sehen wir Aufnahmen, die in den schillerndsten Farben die diversen Verschmutzungszustände des Flusses zeigen. Je giftiger der Fluss, desto schöner die Fotografie. Andreas Seibert setzt auf diesen Widerspruch, wir müssen ihn aushalten.
Menschen am Fluss
Einen weiteren Strang bilden die Porträts der Flussanrainer; einfache Leute, viele von Krankheiten gezeichnet, viele in sich gekehrt, ernst, bekümmert. Zuversichtliche, gar glückliche Menschen sucht man hier vergeblich. Manche dieser Porträts sind aus dem Augenblick heraus entstanden, andere nach Gesprächen. Seibert nimmt sich Zeit und kommt so auch zu Sujets, die nicht am Wegrand liegen.
Von der Quelle zur Mündung
In einem dritten Strang zeigt der Fotograf mit ähnlich nüchternem Blick wie die amerikanischen Fotografen des «New Topographic Movement» der 70er Jahre, denen er sich nahe fühlt, die allmähliche Veränderung der Flusslandschaft. Je näher wir zur Mündung kommen, desto moderner werden die Städte. Am Ende schliesst sich der Kreis: Die explodierenden Millionenstädte mit ihrem Glitzer, in denen dem westlichen Konsumstil nachgeeifert wird, haben den Fluss auf dem Gewissen. Und ein stückweit auch wir als Konsumenten billiger Exportartikel.
Poesie der Verschmutzung
Link zur Ausstellung
Doch der Fotograf enthält sich in seinen Aufnahmen einer direkten Anklage. So sieht man nur selten Fabriken oder andere Verursacher der Verschmutzung. Das hat Methode: Es ist viel härter, die grausligen, oft irreversiblen Folgen der Umweltverschmutzung zu sehen als ihre Verursacher. Die Schlussfolgerung, zu der Andreas Seibert uns mit seiner manchmal fast poetischen und dabei ungemein eindringlichen Arbeit führt, liegt auf der Hand. Wir misshandeln die Natur - und sind am Ende selber die Opfer.
Mit dieser Vorgehensweise, die nicht auf Konfrontation und Anklage setzt, bewirkt der Fotograf etwas: Seine aufrüttelnde Dokumentation über chinesische Wanderarbeiter ist inzwischen sogar in China gezeigt worden - weil auch dort die Einsicht in den hohen Preis ungebremsten Wachstums wächst.
Drastisches Dokument
Die aktuelle Ausstellung «Alles im Fluss» ist nicht minder schockierend, denn die Umweltverschmutzung, die in der Flut der Berichte über das aufstrebende China meist nur gestreift wird, wird hier in aller Drastik sichtbar und konfrontiert uns hartnäckig mit der Frage nach unserer Mitverantwortung.