Als erstes schaut man dem Designer in die Augen: Überlebensgross ist sein Porträt in Schwarzweiss. Die Fotografie hängt in einem abgedunkelten Raum an der Wand. Dazu erklingt pulsierende Musik. Der Vorraum zur Ausstellung «Savage Beauty» im Londoner Victoria and Albert Museum bringt es auf den Punkt: Das Wirken dieses Designers, der sich vor fünf Jahren das Leben nahm, ist überdimensional, düster und voller Inszenierung.
Schneiderlehre statt Schule
Über das Leben Lee Alexander McQueens, wie der 1969 Geborene richtig heisst, erfährt man in der Ausstellung wenig. Die aufwändige Schau fokussiert aufs Wirken des Designers, auf den gigantischen Output in knapp 20 Schaffensjahren. Dabei gäbe es zum Menschen McQueen einiges zu erzählen.
Er wurde als jüngstes von sechs Kindern als Sohn eines Taxifahrers im Londoner East End geboren. Fünfzehnjährig brach er die Schule ab, um an der berühmten Londoner Savile Row eine Schneiderlehre zu absolvieren. Auf den Geschmack gekommen sei der offen homosexuelle Designer bereits in jungen Jahren, als er für seine drei Schwestern Kleider entworfen habe. Das besagt eine Legende.
Legendäre Abschlussinszenierung
Nach ersten Gehversuchen als Schneider, unter anderem bei einem Theaterausstatter und beim italienischen Designer Romeo Gigli, schrieb er sich in einem Londoner Mode-Institut ein.
Bei der Präsentation seiner Abschlussarbeit sass die britische Modejournalistin und Vogue-Stylistin Isabella Blow im Publikum. Sie erkannte als erste McQueens Genie – und kaufte seine ganze Abschlussarbeit auf. Fortan war Blow seine Muse und ebnete ihm den Weg für eine beispiellose Karriere. Unter anderem wurde er Chefdesigner bei Givenchy und etablierte sein eigenes Label.
Stücke aus dieser legendären Abschlussinszenierung sind in der Londoner Ausgabe von «Savage Beauty» zu sehen. Es sind Preziosen wie diese, welche den Besuch im Victoria and Albert Museum lohnenswert machen. «Savage Beauty» war zwar bereits 2011 im Metropolitan Museum of Modern Art in New York zu sehen, allerdings in reduzierter Form: Für London haben die Ausstellungsmacher die Schau um ein Vielfaches ergänzt.
Seine Kollektionen erzählen Geschichten
McQueen machte nicht einfach nur Mode – er erzählte mit seinen Entwürfen hochkomplexe Geschichten: Seine Kollektionen trugen Titel wie «Highland Rape» (Herbst 1995) oder «The Widows of Culloden» (Winter 2006). Damit kommentierte er politische Ereignisse in seiner Mode: Die Schlacht bei Culloden von 1746 zum Beispiel.
Immer verlinkte er in seinen Narrationen seine Biographie: Er hatte schottische Vorfahren und verwendete deswegen auch den McQueen Tartan. Oder er nutzte seine Kreationen als Denkfabrik: In «Plato’s Atlantis», seiner letzten Kollektion (Frühling 2010), imaginierte er eine Unterwasserwelt, zu einer Zeit, in der das Eis an den Polen geschmolzen wäre.
Riecher für technologische Neuerungen
Im Victoria and Albert Museum werden seine Kleider an stilisierten Schaufensterpuppen gezeigt, seine Accessoires in Vitrinen ausgelegt. Das Publikum defiliert daran vorbei. Wie seine Catwalk Shows, die mehr Multimediaspektakel waren als herkömmliche Modeshows, arbeiten auch die Ausstellungsmacher multimedial mit Musik und Film.
«Savage Beauty» macht das Genie des Designers erlebbar. Er hatte nicht nur einen unerschöpflichen Fundus an Inspirationen, sondern auch einen Riecher für technologische Neuerungen. Materialien wie Polyurethan und Gummi gebrauchte er ebenso wie Seide oder Taft. Menschliches Haar verwebte er mit Satin; er benutzte Federn, Ponyfell und echte Alligatorenschädel als Epauletten.
Depressionen und Selbsttod
In solchen Entwürfen wird auch seine dunkle Seite spürbar. «Ich will den Frauen mehr Macht geben. Ich möchte, dass die Leute Angst haben vor den Frauen, die ich kleide», lautete ein Credo McQueens. Er schuf Vogelfrauen, Dominas und verführerische Sirenen. Sich selber gestand er ein gewisses Mass an Perversion zu – und damit auch allen anderen.
2010 fand man den begnadeten Designer mit einem Drogencocktail im Blut erhängt in seiner Wohnung. Er war freiwillig aus dem Leben geschieden, heimgesucht von Depressionen und erdrückt von den hohen Erwartungen der unberechenbaren Modebranche. Er wolle als der Designer in Erinnerung bleiben, der die Mode des neuen Jahrtausends geprägt habe, gab er einmal zu Protokoll. Die Ausstellung in London zeigt: Das ist ihm mit seiner spielerischen Art spielend gelungen.