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Kunst Eindrucksvolles Vermächtnis einer untergegangenen Welt

Der Fotoband «Last Folio» zeigt eine untergegangene Welt. Es sind eindrucksvolle Bilder von zurückgelassenen Gegenständen slowakischer Juden, die in den 1940er-Jahren deportiert und ermordet wurden. Das Hab und Gut blieb seither unberührt und erzählt vom Schicksal seiner einstigen Besitzer.

Das Klassenzimmer sieht aus, als ob der Lehrer gerade in die Mittagspause aufgebrochen wäre. Die Bücher auf dem Pult sind achtlos verstreut, der Stuhl hat einen zu grossen Abstand zum Tisch, als wäre jemand rasch und mit viel Schwung aufgestanden. Am Haken an der Türe hängt sogar noch eine Jacke.

Doch das Bild macht stutzig. Die Bücher in den Regalen stehen schief und sind zerfleddert, die Wände schmutzig, der Verputz bröckelt ab. Das Tischtuch ist staubbedeckt, die Jacke altmodisch geschnitten. Und diese Farben: Brauntöne von ockerhell bis schwarz. Die Zeit ist stehengeblieben in diesem Schulzimmer. Der Zerfall hat Einzug gehalten.

Verborgen in einem unscheinbaren Gebäude

Buchhinweis

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Yuri Dojc und Katya Krausova: «Last Folio. A Photographic Memory». Prestel Verlag, 2015.

Dieses Schulzimmer in der slowakischen Stadt Bardejov hat der in Kanada lebende Fotograf Yuri Dojc an einem Tag im Frühjahr 2006 genauso vorgefunden. Der gebürtige Slowake war mit der in London beheimateten Dokumentarfilmerin Katya Krausova hergereist, um Überlebende des Holocaust zu porträtieren. Plötzlich kam ein Mann auf die beiden zu, mit der Bitte, ihm in ein Gebäude zu folgen, weil er ihnen etwas zeigen möchte. Nur weil der Mann beharrlich seine Bitte wiederholte, gingen sie schliesslich mit. Die Folge ist das Fotoprojekt «Last Folio», das nun als Bildband erschienen ist.

«Wir betreten das Gebäude um fünf nach acht, und als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, ist es schon zwei Uhr nachmittags», schreibt Katya Krausova in ihrem Begleittext zu Yuri Dojcs Fotos. Als der Mann die Türe eines unscheinbaren Gebäudes aufschloss, eröffnete er seinen Gästen eine untergegangene Welt. Hunderte Bücher stapelten sich in Regalen und auf Tischen. Ihre jüdischen Besitzer und Benutzer wurden 1942 in die Konzentrationslager deportiert und umgebracht. Noch 1940 lebten in der slowakischen Republik 89'000 Juden. 2015 schätzt man die Zahl der Juden in der Slowakei auf 3000. Nach Bardejov zurückgekehrt ist praktisch niemand.

Ein Buch ruft die eigene Geschichte in Erinnerung

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Yuri Dojc dokumentiert auf seinen Fotos die Räume und Objekte. Mit einer präzisen Lichtführung und lupenreiner Klarheit lässt er die Bücher und Objekte von Vergangenem und Vergessenem erzählen. Hinter jedem Buch steht auch der Mensch, der es besessen hat. Das wurde dem Fotografen klar, als er Namensstempel in den Büchern fand. Er wollte die Erinnerung an die deportierten Menschen bewahren – mit seinem Mittel, der Fotografie. Indem er ihre Bücher fotografierte, fing er auch ihr Leben ein.

Der Fotograf zeigt zerfaserte Seiten, aufgesprungene Buchrücken, Gebetsriemen, deren Textur brüchig geworden ist wie alternde Haut. Ob der Besitzer jener staubverkrusteten Schultasche die Flasche koscheren Weins getrunken hat, welche dreckverklebt neben ihr auf dem Dachboden steht?

Yuri Dojc ist während einiger Jahre immer wieder in die Dörfer seiner ehemaligen Heimat gereist – nach Bardejov, Lučenec, Košice oder Michalovce. Und dort hat er plötzlich in einem Buch den Namensstempel von Jakap Deutsch gefunden – das war sein Grossvater. Seine eigene Geschichte offenbarte sich ihm als Buch.

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