- Nicht nur der Super-Gau gefährdet Menschen und Tiere.
- Sogenannte Niedrigstrahlung wirkt über Jahre, bewirkt genetische Schäden und ruft Deformationen bei Insekten hervor.
- Zeichnen und wissenschaftliche Arbeit verbinden sich bei Cornelia Hesse-Honegger zu einer neuen Symbiose.
Mutationen – schrecklich und schön zugleich
Als ich Cornelia Hesse-Honegger zum ersten Mal begegne, in einem New Yorker Hotel, im Jahr 2011, ist sie auf dem Weg zu einer Konferenz mit Ärzten und Physikern, die sich mit der langfristigen Auswirkung von radioaktiver Strahlung befassen.
Der Atomunfall von Fukushima ist damals gerade ein halbes Jahr her, noch ist die Aufmerksamkeit weltweit gross, doch der Kreis derer ist klein, die sich mit den Folgen von atomarer Niedrigstrahlung auf Kleintiere beschäftigen.
Die Malerin ist eingeladen zu berichten von ihren Entdeckungen, die sie seit Jahrzehnten beim Zeichnen von Wanzen aus kontaminierten Gebieten macht: sie dokumentiert verformte Beine, Fühler und Flügel, aussergewöhnliche Farbmuster oder bizarre Auswüchse.
Bei einem Besuch in ihrem Haus im Entlebuch sehe ich zum ersten Mal ihre Gemälde im Original: die bunten Musterungen der «Heteroptera» (lat. Wanze) bestechen zunächst durch die Vielfalt ihrer Flügel.
Fast lassen die Farbschönheiten vergessen, dass es sich hier um Wanzen handelt, denen der Fühler aus dem Hinterleib wächst, deren Flügel sich nur als Klumpen entwickelt hat oder deren beide Körperhälften ihre Symmetrie verloren haben, weil ein Fühler ein Geschwür hat. Grauen und Faszination über den Aufbau des natürlichen Bauplans dieser Lebewesen halten sich die Waage.
Nicht nur der Super-Gau gefährdet
Als im Jahr 1986 die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl passierte, arbeitete Cornelia Hesse-Honegger als Wissenschaftliche Zeichnerin am Zoologischen Institut in Zürich.
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Geübt im Zeichnen von mutierten Fliegen, und als Mutter sensibel der radioaktiven Strahlung gegenüber, wunderte sie sich damals, dass keiner ihrer wissenschaftlichen Kollegen die Frage stellte, ob die Schäden, die bisher im Reagenzglas bei Fliegen künstlich erzeugt worden waren, sich nun nicht in der «natürlichen» Umgebung abspielen würden.
Da sich keiner dafür interessierte, machte sie sich alleine auf den Weg: nach Südschweden zunächst, nach Sellafield, zu Atomkraftwerken in Deutschland und in der Schweiz, und später auch in die Nähe von Tschernobyl und nach Vietnam. Sie sammelte mehr als 16.000 Insekten und fertigte über 200 Bilder an.
Wanzen boten sich als Untersuchungsobjekte an, da sie über Generationen hinweg am selben Ort leben. Dort saugen sie mit ihren Rüsseln den kontaminierten Saft aus der Wirtspflanze.
Die Malerin regte Forschung an, doch beschwichtigten Wissenschaftler ihre Sorgen. Die Strahlung sei zu gering. Dass nicht nur Atomunfälle, sondern besonders die Niedrigstrahlung irreversible genetische Schäden verursacht, die erst in späteren Generationen sichtbar werden, ist mittlerweile belegt.
Links zu Studien
Zeichnen und Wissenschaft werden eins
Zeichnen und Malen sind für Hesse-Honegger Forschung, keine blosse Dokumentation. Gerade die minutiöse Wiedergabe ist für sie ein Weg, sich in den Gegenstand zu versenken, ihn in seiner Fülle zu sehen, mit seinen biologischen bis hin zu politischen Implikationen.
Es ist ein wochenlanger Prozess, in dem Cornelia Hesse-Honegger die nur wenige Millimeter kleinen Wanzen mit Hilfe der Lupe zunächst zeichnend überträgt auf eine Grösse von einem halben Meter, und dann detailliert den Farbauftrag aquarelliert.
Während mit Fotografie und Elektronenmikroskop etwas Vorbekanntes sichtbar gemacht wird, arbeitet Cornelia Hesse-Honegger umgekehrt: sie findet über dem langsamen Zeichenprozess etwas, wonach nicht gesucht werden konnte, weil es noch gar nicht bekannt war.