Moskau, in den frühen 1920er-Jahren. Das Volk hat sich befreit, der Zar ist gefallen. Man hatte eine Vision. Man wollte nichts Geringeres als eine neue Gesellschaft. Eine bessere Gesellschaft, erschaffen aus dem Nichts.
Völlig neue Gebäudetypen
Die Form dieser neuen Gesellschaft sollten Künstler und Architekten zeichnen. Sie entwarfen ihre Version der Moderne: Gebäude in einfachen geometrischen Formen. Würfel, Ovale, meist asymmetrisch gruppiert, mit flächigen Fenstern. Licht und Luft statt prunkvoller Schnickschnack.
Die neue Sachlichkeit in der Architektur sollte das Versprechen sichtbar machen: Nicht die Ästhetik zählt, sondern die Funktion. Man kreierte Gebäudetypen, die es vorher nicht gab: kommunale Wohnhäuser, Studentenheime, Arbeiterclubs mit Bibliothek und Theater, Kantinen, Sonnendächer. Orte, an denen man sich begegnen konnte.
Die Zeit der Experimente währte nur kurz
Alle sollten die gleichen Rechte haben. Auch Frauen: Durch integrierte Krippen und Kindergärten würden sie nicht mehr im Haus bleiben müssen. Ebenso entwarf man Wohnraum für Einzelpersonen. Jeder sollte wählen können, ob und wie er zusammen mit anderen Menschen leben will. Frau und Mann als Zweckgemeinschaft oder als Familie? Kann, muss aber nicht.
Wenige Jahre später verflog der zukunftsgerichtete Geist. Stalin kam an die Macht. 1932 verordnete er die Rückkehr zur Prunk-Architektur. Aber noch heute blitzen sie in Moskaus Nebenstrassen hin und wieder auf, die utopischen Bauten von damals.
Eine visuelle Spannung
Sie springen der deutschen Filmemacherin Isa Willinger ins Auge. Erst fotografiert sie die Häuser. Dann will sie mehr wissen. Isa Willinger filmt ihre Eindrücke und macht daraus den Dokumentarfilm «Fort von allen Sonnen».
Isa Willinger sieht zwar die Risse im Beton und die abblätternde Farbe. Aber gleichzeitig kommen ihr die Bauten vor, als blicke sie in die Zukunft. In eine Zeit, die moderner ist als die unsere, wie sie sagt: «Wenn man diese Formen sieht, kann man sich gar nicht vorstellen, dass damals vor diesen Gebäuden Kutschen verkehrten.»
Kubisch, grosse Fenster, das trifft auch auf die heutige Architektur zu. Warum findet Isa Willinger, die 1920er-Jahre wären moderner als die heutige Zeit? Heute sollen Bauten möglichst günstig sein, antwortet sie. Gutes Handwerk werde nicht mehr geschätzt. «Die Formensprache damals war sehr modernistisch. Die Herstellung aber war kein High-Tech, sondern traditionelles Handwerk aus natürlichen Materialien. Diese visuelle Spannung fasziniert mich.»
Die Bauten sind bedroht
Besonders einmalig findet die Filmemacherin auch, dass man Kunstschaffenden so viel politische Macht wie nie zuvor zusprach. Und man habe versucht, Herkömmliches wie die Geschlechterordnung komplett aufzubrechen.
Heutzutage sei der revolutionäre Geist verflogen, die Occupy-Bewegung bleibe bislang ein kurzes Aufflackern: «Die meisten Menschen haben sich damit abgefunden, dass globale Unternehmen und neo-zaristische Regimes die Welt regieren.»
Die Gebäude der Konstruktivisten drohen zu zerfallen. Korrupte Beamte und Bauspekulanten beschleunigen den Prozess zusätzlich. Die Moskauerin Elena beschreibt deren Vorgehen im Film: «Jedes Mal brennt zuerst das Dach, an mehreren Stellen. Dann regnet und schneit es in die Häuser. Sie zerfallen und werden zum Abriss freigegeben.»
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Die Hoffnung bleibt
Elena wohnt neben dem letzten noch erhaltenen Gebäude des berühmten Avantgardisten El Lissitzky. Seit Jahren wehrt sie sich zusammen mit Gleichgesinnten, dass die Druckerei einem Neubau weichen muss. Obwohl ihr die staatlichen Gerichte nie Recht gegeben haben, hat sie doch einen Baustopp des Neubaus erwirkt. Die Hoffnung bleibt. Und die Druckerei steht noch immer, wie eine Trutzburg aus einer noch nicht vergangenen, visionären Zeit.