Ein junges Mädchen, ungefähr 10 Jahre alt, steht in einem Raum und erzählt auf Englisch ihre Geschichte. Sie heisse Ann Lee und sei eine Figur aus der Welt der japanischen Mangas, aber zwei Künstler hätten sie erworben. Ihr Blick ist ins Leere gerichtet. Plötzlich steht sie neben einer Besucherin: «Can I ask you a question? Arbeitest Du zu viel, oder zu wenig?»
Hier machen alle was mit Kunst und Medien, wir sind im Museum, im Martin-Gropius-Bau in Berlin nach der Pressekonferenz für Tino Sehgals Werkschau. Hier sind alle überbeschäftigt. Das Mädchen flackert mit den Augen und fragt: «Und warum?» Es ist sehr leise geworden, man steht versteinert da. Wie eine Skulptur. Doch das Mädchen geht.
Ein Raum, ein Mensch, fertig.
Die Arbeit «Ann Lee» ist fünf Jahre alt, die Mädchen wechseln. In Berlin wurden die ersten Besucher völlig überrumpelt von den jungen Performerinnen, die sich den Job teilen. Wie souverän so ein junger Mensch wirken kann, wie unheimlich, auf der Schwelle zwischen Kind und Cyborg. Ganz ohne Technik, ohne Video oder 3D-Brille. Ein Raum, ein Mensch, fertig.
Von minimalem Aufwand kann dennoch nicht gesprochen werden, wenn man ein grosses Museum leer räumen muss. Denn die Kunst von Tino Sehgal will «der Welt keine Objekte» hinzufügen.
Die fünf Arbeiten im Martin-Gropius-Bau sind reine «Situationen», wie der studierte Ökonom und Tänzer seine Performances nennt. Rund zwei Dutzend Performer sind daran beteiligt. So müssen keine Ausstellungsarchitekturen transportiert werden.
Nachhaltigkeit heisst: keine Bilder, kein Katalog, kein Plakat
Niemand im Kunstbetrieb nimmt Nachhaltigkeit so ernst wie der deutsch-britische Künstler, der selbst in kein Flugzeug steigt. Wenn er im New Yorker Guggenheim oder in Südkorea ausstellt, reist er auf dem Land- oder auf dem Seeweg. Es gibt auch keinen Ausstellungskatalog, keine Bilder, keine Plakate.
Künstler von Sehgals Rang und mit seinen Marktpreisen leben nicht nur von Ausstellungen, sondern auch von Verkäufen. Wie verkauft man «Situationen»? Es gibt tatsächlich Sammler, die dafür in die Tasche greifen. Als Gegenwert erhalten sie einen Text mit Anleitungen, wie die Performance aufzuführen sei. Im Theater würdes man sagen: eine Regieanweisung.
Die neue andere Museumserfahrung
Für Sehgal ist zentral, dass seine Kunst in Galerien und Museen aufgeführt wird, und nicht im Theater, wo ein Bühnenportal die Zuschauer von den Schauspielern trennt. Die bereits an der renommierten Documenta gezeigte Performance «This Variation» findet in einem stockdunklen Raum statt, in dem die Betrachter in den ersten Minuten nichts sehen. Man tastet sich langsam vor, während 14 Performer Popsongs oder Clubtracks singen, von den Beach Boys bis LCD Soundsystem.
Allmählich erkennt man Umrisse und tänzerische Bewegungen. Erst allmählich wird klar, wer spielt und wer zuschaut. Doch auch einzelne Zuschauer tänzeln oder brummen gar eine Basslinie. In einer Bühnensituation wäre das nicht möglich. Es gibt mittlerweile aber auch Theaterhäuser, welche die Rampe wegräumen und solche Räume herstellen können, in der Schweiz zum Beispiel die Gessnerallee in Zürich oder die Kaserne in Basel.
Vor Mitmachtheater muss bei Sehgal dennoch niemand Angst haben. Man spürt keinen Druck, sich so oder anders zu verhalten, niemand wird ausgestellt. Und nirgends ist man so sicher, dass es sich um Performer handelt, und nicht um Zuschauer, wie bei «The Kiss»: Ein Mann und eine Frau stellen berühmte Kussszenen aus der Kunstgeschichte nach.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 30.06.2015, 17:40 Uhr