Sechs Stunden lang nichts anderes tun als Reiskörner zählen. Was im ersten Moment nach purer Zeitverschwendung klingt, lässt auf den zweiten Blick eine tiefere Bedeutung erahnen. Für die Performance-Künstlerin Marina Abramovic ist diese Tätigkeit ein direkter Weg, um sich selber besser kennenzulernen. Wie lange kann man sich ausschliesslich einer einzigen Tätigkeit widmen, ohne die Konzentration zu verlieren? Wie gross ist die eigene Willenskraft?
Es ist die Neugier, welche Marina Abramovic in ihrem Leben immer wieder in unerschlossene Gebiete der Performancekunst vordringen lässt. Wie etwa in ihrer Performance «Rhythm 0» im Jahr 1974. Damals gab sie sich sechs Stunden lang in die Hände des Publikums, welches mit Hilfe von 72 Gegenständen alles Mögliche mit ihr anstellen konnte. Auch bei ihrer letzten grossen Performance «The Artist Is Present» im Jahr 2010 ging es um die Beziehung zwischen Künstlerin und Publikum. Im Rahmen ihrer eigenen Retrospektive sass Marina Abramovic zweieinhalb Monate lang im New Yorker «Museum of Modern Art». Das Publikum konnte sich vis-à-vis von ihr hinsetzen und ihr in die Augen schauen.
MAI: Marina Abramovic Institute
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Nach über 40 Jahren an der internationalen Spitze der Performance-Kunst möchte Marina Abramovic ihre Erfahrungen an die Menschen weitergeben. In ihren Augen wäre das aber nur möglich, wenn man diese Erfahrungen selber macht.
Aus diesem Grund hat die 67-Jährige ein Projekt der besonderen Art ins Leben gerufen. Die gebürtige Serbin möchte im Bundesstaat New York, in der Stadt Hudson, eine Art «Performance-Parcour» bauen: Das Marina Abramovic Institut, kurz MAI. Ein grosses Gebäude im Stadtzentrum soll dazu renoviert werden, wo Besucher dann diverse, so genannte «Long Durational Performances» durchführen können.
Grenzen ausloten
Jeder Mensch hat körperliche und geistige Grenzen. Für Marina Abramovic sind diese aber nicht unverrückbar. Vielmehr geht es darum, immer wieder an diese Grenzen zu stossen und zu schauen, was dahinter ist. Doch dies geschieht nicht einfach so. Sie sagt: «Es liegt in der Natur der eigenen Grenzen, dass sie mit Schmerzen verbunden sind, körperlichen oder geistigen. Die Willenskraft diese Schmerzen zu überwinden kann dich in unbekannte Gebiete deiner selbst befördern.»
In ihrer nächsten Performance überschreitet Marina Abramovic erneut eine Grenze. Und zwar verzichtet sie in «512 hours» auf jegliche Gegenstände. 64 Tage lang wird sich die Performancekünstlerin diesen Sommer in den Serpentine Galleries in London aufhalten. Während den Öffnungszeiten wird sie ausschliesslich mit dem Publikum konfrontiert sein und umgekehrt. «Ich werde eine Art zeitlosen Raum erschaffen, in dem Menschen Stunden an Zeit mit mir verbringen können. Das Museum wird leer sein, keine Kunstwerke nirgendwo. Ich werde diesmal einfach alles weglassen, selbst ein Konzept», so Marina Abramovic.
Reiszählen in Genf
512 Stunden. Viel Zeit, in der alles passieren kann – und nichts. Die Zeit sei schon ihr Leben lang ihr grösster Feind und Freund zugleich gewesen. Einerseits zerstöre sie alles, andererseits könne man nur mit Hilfe der Zeit in eben diese erweiterten Bewusstseinszustände gelangen. Ihre «Marina Abramovic Method», zu welcher auch das Reiszählen in Genf gehört, sei der Schlüssel zu einer «Zeitfreien Zone», welche das Ziel jeder Performance sei.
Die Performance «Counting the Rice» in Genf läuft noch bis am 11. Mai. Bis dann kann man sich per Mail beim Centre d‘Art Contemporain anmelden. Die Platzzahl ist begrenzt und begehrt. Deshalb lautet das Motto: Wenn man Zeit finden will, darf man keine verlieren.