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Kunst nach Fukushima Eine Katastrophe rüttelt an der Kultur

Erst das Erdbeben, dann der Tsunami, schliesslich der nukleare Gau: Warum die japanische Kultur die Katastrophe von 2011 noch längst nicht verdaut hat.

Tokio liegt 300 Kilometer südlich von Fukushima. Dennoch sei die Katastrophe von 3/11 im Alltag der japanischen Hauptstadt kaum mehr präsent, sagt Kyoko Iwaki, Theaterjournalistin und Kuratorin: «Während die Menschen in der Umgebung von Fukushima an den Folgen und unter der nuklearen Bedrohung leiden, hat man in Tokio den Eindruck, das geschäftige Leben gehe weiter wie davor.»

Unterdrückte Ängste

Zumindest auf den ersten Blick könne man das denken. «Die Erinnerung und die Ängste sind unterdrückt», stellt Kyoko Iwaki fest. Sie hat ihre Doktorarbeit über das japanische Theater nach Fukushima geschrieben und in den letzten Jahren abwechslungsweise in London und Tokio gelebt.

Direkt nach der Katastrophe seien viele Künstlerinnen und Künstler in die betroffenen Gebiete gefahren, um zu helfen. In einem zweiten Schritt hätten sie angefangen, die Lage vor Ort zu dokumentieren.

«Die künstlerischen Strategien waren damals fragmentarisch und dokumentarisch», sagt Iwaki. «Erst Jahre nach der Katastrophe sind die Kunstwerke, die sich mit Fukushima beschäftigen, tiefer und solider geworden.»

Kunst der Wahrnehmung

Kein Wunder: Gute Kunst braucht Zeit. Und eine globale Dreifachkatastrophe wie Fukushima ist eine politische und gesellschaftliche Zäsur, die auch die Kultur betrifft.

Auch nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki (1945) habe es viele Jahre gedauert, bis Künstlerinnen und Künstler eigenständige künstlerische Strategien und eine persönliche Perspektive einnehmen konnten, sagt Iwaki.

«Ein Feuer und seine Folgen, das sieht man. Aber Verstrahlung ist unsichtbar.» Deshalb sei es so schwer, die veränderte Wahrnehmung nach Fukushima darzustellen und für das vermeintlich Unsichtbare einen künstlerischen Ausdruck zu finden.

Raven gegen die Angst

Auch wenn oberflächlich betrachtet der Alltag in Tokio weitergehe wie vor Fukushima, stellt Iwaki Phänomene der Veränderung fest.

Halloween etwa wurde vor 2011 in Japan nicht so obsessiv gefeiert wie heute: «Die rave-artigen Halloween-Parties in den Szenevierteln von Shibuya sind gerade bei der jüngeren Generation durchaus eine Reaktionen auf die Unterdrückung der Ängste im Alltag.»

Drei junge Frauen feiern Halloween im Szeneviertel Shibuya. Sie sind verkleidet als Zombies.
Legende: Ängste werden manifest: Drei junge Frauen feiern Halloween im Szeneviertel Shibuya. Getty Images

Fukushima sei ein Katalysator für viele politische und gesellschaftliche Probleme des Landes geworden, über die man früher nicht geredet hat, sagt Iwaki.

Kitten mit Kunst

Doch während Künstlerinnen und Kulturschaffende versuchen, für das Unsichtbare, die Risse im Alltag und die Verrückungen der Wahrnehmung einen Ausdruck zu finden, strebt die nationalistische Politik unter Premierminister Shinzo Abe selbstbewusst in die andere Richtung.

Scheinbar unerschrocken versucht sie, Stärke zu manifestieren und gibt vor, Japan wieder zu einer wirtschaftlich erfolgreichen Nation machen zu können.

Audio
«Das Unsichtbare sichtbar machen»
aus Kontext vom 18.09.2018. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 16 Minuten 59 Sekunden.

Sichtbar werde dieser Zwiespalt auch in den kulturellen Bestrebungen für die Olympischen Spiele 2020, die in Tokio stattfinden werden.

Das politische Interesse sei es, diesen Anlass als Manifestation der nationalen Stärke zu präsentieren. Die Erinnerungen an die anhaltenden Verstörungen durch Fukushima haben dabei keinen Platz.

Interview mit Adolf Muschg

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Legende: Keystone

Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg schildert in seinem aktuellen Roman «Heimkehr nach Fukushima» die unüberwindbare Erblast des Gaus von 2011 beklemmend plastisch.

SRF: Was hat Sie gereizt, ausgerechnet Fukushima als Kulisse Ihres neuen Romans zu wählen?

Adolf Muschg: Fukushima ist ein sehr spezieller Ort. Er lebt vom Kontrast. Zum einen hat die nukleare Katastrophe dort viel des in Japan ohnehin sehr knappen fruchtbaren Bodens für unabsehbare Zeit zerstört. Um die Dörfer herum hat man nun die verseuchte Erde abgetragen und in Plastiksäcke verpackt.

Man wird dort nie mehr etwas anbauen können. Der Boden ist tot. Zum anderen gibt es in der Region aber auch grosse Gebiete, die man nicht dekontaminieren konnte: Berge, Wälder, Flüsse. Sie sind von bestechender Schönheit, muten paradiesisch an – sind aber verseucht.

Was hat Sie an diesem Kontrast besonders interessiert?

Dass man nichts von der Gefahr merkt. Man sieht nichts. Man riecht nichts. Man hört nichts. Die Sinne lassen einen im Stich. Die Wirkung der Strahlung zeigt sich erst nach Jahren. Und so gesehen ist Fukushima ein Symbol für den Zustand der Welt.

Inwiefern?

Fukushima zeigt, dass die Vorstellung des ewigen Fortschritts ins Leere läuft. Aber wir wollen es nicht merken. Wir sind gefühlsmässig die Höhlenmenschen geblieben, die wir schon vor Zehntausenden von Jahren waren. Was sich ausserhalb der Höhle abspielt, vermögen wir nicht zu überschauen und schon gar nicht zu kontrollieren.

Es ist noch nicht so lange her, dass man glaubte, mit ein paar Schichten Zeitungspapier könne man sich gegen radioaktive Strahlung schützen. Fukushima führt uns vor Augen, dass wir auch heute noch überfordert sind mit der Atomtechnologie.

Wir sind an einem Wendepunkt der Geschichte: Wenn wir als Menschheit überleben wollen, müssen wir unseren Umgang mit der Natur grundlegende überdenken.

Also nicht nur in einzelnen Ländern wie der Schweiz aus der Atomenergie aussteigen, sondern überall?

Dies genügt kaum. Es geht um die grundlegendere Frage, wie viel Kultur sich eine Zivilisation leistet. Das bedeutet, dass wir uns fragen müssen, was wir künftig nicht mehr tun wollen.

Die Natur zeigt uns in Fukushima und anderswo, wo unsere Grenzen liegen. Es geht darum, ihr mit Respekt zu begegnen. Auf die Natur zu hören, bedeutet nicht nur Verzicht, sondern auch Genuss.

Das Gespräch führte Felix Münger.

Buchhinweis: Adolf Muschg. Heimkehr nach Fukushima. C.H. Beck 2018.

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