Kleine Angestellte und Arbeiter, Arbeitslose und Gelegenheitskriminelle – das sind Yoshihiro Tatsumis Antihelden: erbärmliche Verlierer, von ihren Frauen verachtet, von ihren Vorgesetzten ausgenutzt, von den Arbeitskollegen gedemütigt und selbst von Prostituierten verspottet. Wenn sie sich nicht resigniert in ihr Schicksal fügen, wehren sie sich mit einem Ausbruch von sinnloser oder mörderischer Gewalt.
«Helden?» Tatsumi, ein freundlicher Mann von 78 Jahren, den ich in Tokio besuche, lächelt. «Helden haben mich nie interessiert. Helden müssen immer gewinnen, und das hat doch mit dem richtigen Leben nichts zu tun!»
Die Opfer des Aufschwungs
Als Yoshihiro Tatsumi in der Mitte der 1950er Jahre seine ersten realistischen Geschichten zeichnete und sie, um sie vom herkömmlichen Manga abzugrenzen, «Gekiga» («dramatische Bilder») nannte, lag er quer in der Landschaft. Mit düsteren Moritaten setzte er einen Kontrapunkt zur Aufbruchsstimmung im Nachkriegsjapan.
«Alle wollten am Wachstum teilhaben, aber nicht allen gelang es», erinnert er sich, während er an seinem Grüntee nippt. Es ist kurz nach Mittag in Tokio, das enge, nüchtern eingerichtete Nudelrestaurant ist leer, die meisten Gäste sind an ihre Arbeit zurückgeeilt. «Bei den Erfolgreichen fiel mir auf, wie die materielle Bereicherung einherging mit einer inneren Verarmung.»
Geschichten mit gesellschaftlicher Brisanz
Auch in der Manga-Szene bewirkten seine Gekigas einen Bruch mit den damals üblichen Abenteuergeschichten für Kinder und karikaturistisch überzeichneten Gag-Strips für Erwachsene. Tatsumi begann als 18jähriger seine Laufbahn zwar mit lustigen Mangas, doch gab er, beeinflusst von Akira Kurosawa, dem italienischen Neorealismus und dem französischen und amerikanischen Série-Noire-Kino, bald dem Bedürfnis nach, Geschichten mit einer gewissen gesellschaftlichen und politischen Brisanz zu erzählen. «Ich wollte meinen Figuren mehr psychologische Tiefe geben, und deshalb musste ich mich an erwachsenere Leser wenden.»
Preisgünstige Lektüre
Dass Tatsumi seine unkonventionellen Comics überhaupt veröffentlichen konnte, verdankte er einer Eigenheit des japanischen Buchmarkts: In den Jahren vor der Verbreitung des Fernsehens schlossen private Leihbuchhandlungen die Lücke zwischen dem Buchhandel und dem quasi inexistenten Bibliothekswesen. Sie stillten mit populärer Literatur und Comics das Bedürfnis der unteren Schichten nach preisgünstiger Unterhaltung.
Die jungen Männer, die damals vom Land in die Städte strömten, erkannten sich in Tatsumis Verlierern wieder. «Ich stamme selber auch aus bescheidenen Verhältnissen», erklärt er. «Ich fühlte mich den einsamen und ausgeschlossenen Menschen, die ich im Gewühl der Grosstadt beobachtete, sehr nahe.»
Pionier des Erwachsenencomics
Von seinem Erfolg ermutigt, veröffentlichten die Leihbuchhandlungen bald regelmässig erscheinende Gekiga-Anthologien wie «Kage» («Schatten», ab 1956) oder «Machi» («Stadtviertel», ab 1957). «Ich hatte natürlich gehofft, mit meinen Geschichten neue Leser zu finden – der Erfolg des Gekiga übertraf aber alle meine Erwartungen.»
Mit seinen Gekigas begründete Tatsumi den japanischen Comic für Erwachsene. Er steht deshalb am Anfang der äusserst reichen und vielfältigen japanischen Tradition von anspruchsvollen Mangas. Und das zu einem Zeitpunkt, als realistischen Comics im Westen noch völlig undenkbar waren.
Schnörkellos und lakonisch
Mit grosser Verspätung entdeckt auch der Westen Yoshihiro Tatsumi: «Geliebter Affe und andere Offenbarungen» versammelt 13 Geschichten, die Tatsumi zwischen 1970 und 1998 zeichnete. Sie zeigen ein ungeschöntes Bild vom japanischen Alltag und widersprechen dem verbreiteten Klischee, alle japanischen Comics seien hysterisch und kindlich. Tatsumis Zeichnungen sind wie seine Geschichten und sein Blick auf die Welt: schwarz und weiss, klar und nüchtern, kaum überzeichnet, schnörkellos und lakonisch, unbestechlich und pessimistisch.
Ein Pessimist ist Tatsumi bis heute geblieben, und er misstraut Erfolg und Reichtum nach wie vor. «Ich ziehe eine schattige Ecke einem sonnendurchfluteten Platz vor», sagt er und lacht. «Da fühle ich mich sicherer und ruhiger.»